Haben Emotionen in der politischen Auseinandersetzung ein Wörtchen mitzureden? Und wenn ja, wie weit sollte ihr Einfluss gehen? Wäre es nicht besser, sie würden von der Politik ferngehalten? Aus den aktuellen Debatten zum Populismus, insbesondere dem nach wie vor virulenten 'Trumpismus‘, sind diese Fragen nicht wegzudenken. Der Stil des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wird als hemmungslos emotionalisierend kritisiert. Im Gegensatz dazu wird die deutsche Bundeskanzlerin gerne wohlwollend als 'analytisch‘ oder 'kopfgesteuert‘ bezeichnet.
Dieses Gegensatzpaar aus Vernunft und Gefühl, das den politischen Diskurs seit dem späten 18. Jahrhundert begleitet, ist verführerisch, aber mit Vorsicht zu genießen, denn es verrät wenig über Gefühle, aber viel über Elitenbildung und Machtstrukturen. Politik, so hieß es damals, sei eine Domäne rationaler und gebildeter Männer, in der als emotional verschriene Menschen, wie Frauen, das Proletariat, people of colour und Kinder, nichts verloren hätten. Im Kontrast zwischen Donald Trump und Angela Merkel scheinen diese Einschätzungen wieder auf, wenn diesmal auch, ironischerweise, mit vertauschten Rollen.
"Feeling Political"
Was heißt es, 'politisch zu fühlen‘? Man kann durch Politik sicher emotional bewegt werden, aber kann man auch durch Emotionen politisiert werden? Um sich diesen Fragen zu nähern, entwirft das Gemeinschaftsprojekt auf der Grundlage empirischer Fallstudien eine emotionshistorische Perspektive auf die politische Geschichte Europas und Amerikas seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Eine Politik demokratischer Mitbestimmung, so der Leitgedanke, beruht darauf, dass Emotionen mobilisiert, geteilt, kommuniziert und verhandelt werden. Sei es, dass die politische Mitbestimmung durch soziale oder politische Bewegungen erfolgt, durch Clubs und Vereinigungen, Parlamente oder die Medien – politisches Interesse und Engagement basieren maßgeblich auf der Empfindung, dass Bürger zu einer gemeinsamen Sache ihren Beitrag leisten können. Dieses Gefühl be- und entsteht nicht nur in liberalen Demokratien, sondern auch in faschistischen oder sozialistischen Systemen; es betrifft Bürger*innen und Wähler*innen sowie Beamt*innen und Amtsträger*innen; es ist auf lokaler und regionaler Ebene ebenso vorzufinden wie auf nationaler und internationaler; es durchdringt die Gesellschaft in Friedens- wie in Kriegszeiten. Bemerkenswert ist jedoch, dass – emotionshistorisch betrachtet – keine lineare Entwicklung von Emotionalität zur Rationalität – mit einer gelegentlichen Eruption als Ausnahme, die die Regel bestätigt – stattfand, sondern es sich nahezu umgekehrt verhielt: Je mehr Menschen an Politik teilhaben konnten, desto mehr spielten Emotionen eine Rolle.
Institutionen
Methodisch lässt sich die zentrale Rolle politischer Emotionen über den Zugriff der ‚Institution‘ untersuchen, deren Definition bewusst weit gedacht ist: Kann es sich dabei einerseits um formale Strukturen wie Parlamente, die Justiz oder Regierungsorganisationen handeln, so fallen andererseits auch informelle Zusammenkünfte wie Gesangsvereine, Sportclubs, religiöse Gruppierungen oder Freunde und Familien darunter.
"Templates"
Daraus leitet sich die Hauptthese des Projektes ab: Gefühle in der Politik und für die Politik sind weder individuell noch einzigartig. Sie konstituieren sich durch gemeinsame Haltungen und Handlungen, die durch Institutionen geformt werden. Institutionell gebundene Verhaltensmuster (‚emotional templates‘) aktivieren und lenken Menschen und ihre emotionalen Repertoires in Richtung eines spezifischen politischen Anliegens.
Institutionen vermitteln ihren Angehörigen mithilfe visueller, akustischer und räumlicher Instrumente und Medien Regeln und Normen für Gefühlsäußerungen. Emotionen werden auf diese Weise zum konstitutiven Element von Institutionen. So wie Emotionen an politische Institutionen herangetragen werden, so prägen umgekehrt eben jene Institutionen die Emotionen. Diese Wechselwirkung zwischen 'politischem Fühlen‘, 'politischen Gefühlen‘ und 'politischen Organisationen und Institutionen‘ bilden das Fundament politischer Partizipation in der Moderne.
Politisches Gefühl auf Demonstrationen: Straßenpolitik im modernen Deutschland, 1832-2018
Ute Frevert Noch vor den ersten Parlamentswahlen gab es soziale Bewegungen. Bürger schlossen sich zusammen, um öffentliche Forderungen nach politischer Vertretung zu stellen. Hier war die Ausübung der Demokratie gleichbedeutend mit der Ausübung politischer Gefühle. In den Jahrzehnten vor der Revolution von 1848, in den 1920er und frühen 1930er Jahren sowie in den 1970er und 1980er Jahren dienten Emotionen als mobilisierende Kräfte, die den politischen Aktivismus unterstützten.
Politisches Gefühl im Radio: Präsident Roosevelts „Fireside Chats“, 1933-1944
Michael Amico In einer Serie von einunddreißig vom Radio übertragenen Kamingesprächen (Fireside Chats) wandte sich Franklin D. Roosevelt inmitten der Great Depression direkt an die amerikanische Bevölkerung und verlieh so institutionellen Herausforderungen die Form mitreißender Konversationen. Indem sie die amerikanische Bevölkerung Vertrauen und Zuversicht spüren ließen, legten diese Rundfunkgespräche die Macht zur Veränderung in die Hände eines jeden und einer jeden Einzelnen.
Politisches Gefühl im Recht: Die Entstehung der internationalen Strafgerichtsbarkeit, 1899-2019
Agnes Arndt Die internationale Strafgerichtsbarkeit gilt ihrem Selbstverständnis nach als neutral, unpolitisch und emotionslos, steht jedoch vor der Herausforderung, global unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Recht und Gerechtigkeit ist, in Einklang mit internationaler Rechtsprechung zu bringen. Die Analyse dieser Dynamik, die während der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg begann und schlussendlich zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs führte, zeigt die Entstehung internationaler Strafgerichtsbarkeit als politische Institution.
Politisches Gefühl durch kollektives Singen: Politische Jugendorganisationen in Deutschland 1920-1960
Juliane Brauer In den Jugendorganisationen des 20. Jahrhunderts wurde viel gesungen. Dieses gemeinschaftliche Singen eigens komponierter Lieder sollte nicht nur die spezifische politische Botschaft verbreiten, sondern auch das politische Fühlen erziehen. Insbesondere an dem Klassiker der sozialdemokratischen Jugend „Wann wir schreiten Seit an Seit“ (1913) zeigt sich, wie Zukunftshoffnung zu einem spezifisch politischen Gefühl wurde.
Politisches Gefühl in der öffentlichen Verwaltung: Frankreichs moderne Bürokratie zwischen Militanz und Staatssinn, 1789-2018
Francesco Buscemi Die öffentliche Verwaltung ist ein wesentliches Element moderner politischer Institutionen, das stark von Emotionen durchdrungen ist. Im nachrevolutionären Frankreich wurden Beamte dazu angehalten, bestimmte Gefühle zu entwickeln, um als gute Republikaner und loyale Diener des souveränen Staates zu gelten. Zwei verschiedene nationale Verwaltungsschulen (*1848 und *1945) förderten die für den bürokratischen Dienst erforderlichen politischen Gefühle.
Politisches Gefühl am Jour de l‘Armistice: Institutionelle Auseinandersetzungen im Frankreich der Zwischenkriegszeit
Karsten Lichau Die Suche nach einer angemessenen öffentlichen Gedenkzeremonie für die Toten des Ersten Weltkriegs war in Frankreich von einem Streit zwischen dem Staat, der Kirche und den Veteranenverbänden geprägt: Während der Staat danach strebte, Gefühle des Triumphes und der Glorifizierung in den Vordergrund zu stellen, bevorzugten Veteranenvereinigungen bescheidenere Formen des andächtigen Gedenkens, die sich an die Trauerrituale der katholischen Kirche anlehnten.
Politisches Gefühl über Grenzen: Internationale Solidaritätsbewegungen 1830er bis 1980er Jahre
Caroline Moine In den internationalen Solidaritätsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts förderten Emotionen ein Gefühl weltweiter Brüderlichkeit. Der Philhellenismus der 1820er Jahre, die Solidaritätsbewegungen während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) und gegen die chilenische Diktatur in den 1970er und 1980er Jahren waren geprägt von individuellen und kollektiven Emotionen wie Mitgefühl, Angst, Ärger, Enthusiasmus und Hoffnung.
Politisches Gefühl im Parlament: Regeln und die Rednertribüne, Deutschland 1849-1951
Philipp Nielsen Die deutschen Parlamentarier, die seit 1848 über die Regulierung der Rede debattierten, diskutierten und diskutieren auch über Emotionen. Sie stellten Regeln auf, die einen "geordneten Ablauf" der Politik ermöglichten und die "Würde" des Plenarsaals garantierten, gleichzeitig aber spontane Gefühlsäußerungen wie (bestimmte Arten von) Lachen, Jubel, wütende Zwischenrufe, den durch Einsprüche erzeugten und für diese genutzten Lärm und schließlich Unruhe tolerierten und kanalisierten.
Politisches Gefühl in Bildern: Portraits US-amerikanischer Präsidenten, 1796-2010
Kerstin Maria Pahl Bilder von Politikern entwerfen Ideen von Führung, vermitteln moralische und ethische Werte und beeinflussen dadurch die öffentliche Meinung. Die Porträts der amerikanischen Präsidenten George Washington, Franklin D. Roosevelt und Barack Obama zeigen exemplarisch, wie bestimmte Gefühlsausdrücke als Verhaltenskodex für den ‘staatsmännischen Stil’ festgeschrieben werden. Als solche sind sie Teil eines visuell-emotionalen Arguments, im und über den Wahlkampf hinaus.
Politisches Gefühl durch einen Fußballverein: Der FC Schalke 04, 1904-2020
Julia Wambach Der deutsche Erstligaklub FC Schalke 04 leitet sein gegenwärtiges Image und sein “emotional template” aus dem Trauern um das Ende der Kohle in der Region ab. Regierungen, politische Parteien und örtliche Verwaltungsmitarbeiter versuchten, die emotionale Beziehung der Schalke Fans für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, insbesondere in den Krisenzeiten der Deindustrialisierung Mitte der 1990er Jahre.