Volatilität und Vulnerabilität

Globale intersektionale Perspektiven vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart

      

Wie verändert sich unser Verständnis von Emotionen, wenn wir sie an Zeiten und Orten höchster Prekarität aufsuchen? Welche Gefühle und Akteure, welche Dynamiken und Machtstrukturen jenseits und zwischen Menschen rücken in den Fokus? Können so Volatilität und Vulnerabilität der menschlichen Existenz – aber auch Hoffnung auf Wiedergutmachung und Anerkennung von Unrecht – auf eine neuartige Weise ausgeleuchtet werden? Und wie wirkt sich dieser Perspektivwechsel auf die Geschichte von Kultur, Politik, Ökonomie und Emotionen aus?

In einer Zeit multipler – globaler, politischer, sozialer, ökonomischer und ökologischer –Krisen zielt das Gemeinschaftsprojekt darauf ab, die Unbeständigkeit und Verwundbarkeit des Menschen durch die Linse der Emotionen zu befragen. Es will erstens zur dringend notwendigen Erweiterung der bisherigen, stark humanzentrierten Vorstellungen von Gefühlen beitragen und zweitens eine intersektionale Perspektive einnehmen. Das Projekt lehnt somit all jene ausgrenzenden und unterdrückenden Konzepte von Menschlichkeit ab, die der weißen Vorherrschaft, dem Patriarchat und dem rassifizierenden Kapitalismus dienen. Stattdessen bietet es einen konzeptionellen Rahmen, der die Grenzen zwischen Menschen, Umwelt und Technologie überschreitet, indem er nach Emotionen jenseits des Menschlichen fragt und zugleich auf innovative Weise klassische Kategorien sozialer Hierarchisierung wie race, class und gender konstruktiv historisiert und kritisch hinterfragt.

Im Mittelpunkt des Projekts stehen Geschichten über Gefühle und Strukturen der Verletzbarkeit in verschiedensten Ausprägungen und Formen, aber auch Gesten der Hoffnung und Überwindung, die aus Beziehungen zwischen und jenseits des Menschlichen entstehen können. In diesem Sinne arbeitet das Projekt mit einem Konzept der Handlungsfähigkeit, das, Lauren Berlant zu Folge, das Funktionieren und Aufrechterhalten und nicht das Machen in den Vordergrund stellt, eine Form der Handlungsfähigkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie porös ist, von cross-over geprägt, oder – wie Achille Mbembe es ausdrückt – als „diesen schwindelerregenden Zustand des endlosen Überschreitens und Werdens, dessen Ende einfach darin besteht, am Leben zu bleiben.“

Volatilität und Vulnerabilität befasst sich mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher historischer Gegebenheiten, Geografien und Quellen, von sowjetrussischer Science-Fiction und sambischem Afrika-Futurismus, bis hin zu verschiedenen Erzählungen über Gewalt und Verletzlichkeit an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Es ist globalhistorisch angelegt und umfasst Fallbeispiele aus Indien, Südafrika, Sambia, Russland, der Türkei und Deutschland. Alle Beiträge eint die Einsicht, dass Verletzlichkeit und ein vielfach erlebter Mangel an emotionalem und körperlichem, materiellem, rechtlichem und sozialem Wohlergehen zu den Grundkonstanten der emotionalen Ökologie unserer globalisierten Welt gehören. Ziel des Projekts ist es, diesen Befund zu historisieren und zugleich zu problematisieren, indem Prekarität, Volatilität und Vulnerabilität auf innovative Weise zusammengedacht und neue Impulse für eine Emotionsgeschichte von Menschen, Nichtmenschen und Umwelt gegeben werden.


Die Beiträge


Feeling ViolenceRechtliche Schutzbedürftigkeit und kapitalistische Prekarität in Deutschland

Feeling Violence
Rechtliche Schutzbedürftigkeit und kapitalistische Prekarität in Deutschland

Agnes Anna Arndt

Wie kann Gewalt, die nicht nur individuell, sondern auch systemisch erzeugt wird, überwunden werden? Filme wie „Die Rüden“ beantworten diese Frage dahingehend, dass wir nicht-menschlicher Wesen bedürfen, die uns unsere dysfunktionalen Reaktionen bewusst machen. Ausgehend von dieser Beobachtung und von Quellen häuslicher Gewalt in Deutschland zwischen 1990 und 2020 analysiert der Beitrag Gefühle und Strategien der Ausgrenzung des sexualisierten und rassifizierten „Anderen“ sowie die rechtlichen und sozialen Versuche ihrer Eindämmung, um eine kritische Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Volatilität und Vulnerabilität anzuregen.

Filmstill „Die Rüden“ von Connie Walther © Tom Trabow
Feeling the „Monkeyman“Soziale Hierarchien und Verwundbarkeit im städtischen Indien

Feeling the „Monkeyman“
Soziale Hierarchien und Verwundbarkeit im städtischen Indien

Rukmini Barua

Eine Reihe von Angriffen, die angeblich von einem als „Monkeyman“ bekannten Wesen verübt wurden, lösten 2001 in den Arbeitervierteln von Delhi Panik aus. Die Vorfälle ereigneten sich in einer Situation, in der das Zusammenleben zwischen Menschen und Affen hoch umstritten war, da die Verstädterung Delhis die Lebensräume der Affen immer mehr beschränkte. Der Beitrag konzentriert sich auf die Gefühle rund um die Begegnungen mit dem Affenmann, um Strukturen der Prekarität und Verwundbarkeit im heutigen Delhi aufzuzeigen und die Interaktion zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bei der Gestaltung der städtischen Umwelt zu untersuchen.

Collage von Schlagzeilen in The Hindustan Times im Mai 2001 © MPIB
Feeling RaceEine Analyse von Namwali Serpells The Old Drift

Feeling Race
Eine Analyse von Namwali Serpells The Old Drift

Stephanie Lämmert

Namwali Serpells hochgelobter afrika-futuristischer Debütroman „The Old Drift“ aus dem Jahr 2019 befasst sich mit der Kolonialgeschichte Sambias und erzählt diese aus Sicht der Verstrickungen dreier Familien – einer weißen, einer braunen, einer schwarzen. Der Beitrag zeichnet nach, auf welche Weise die Romanfiguren Gefühle der Verletzlichkeit und Gefühle der Rassifizierung verhandeln, indem sie ihre Beziehungen zu Menschen, Tieren und Technologie verändern. Können Gefühle der Verwundbarkeit die Geschichte der Gewalt und Kontingenz des Kolonialismus und die Widersprüche der modernen Entwicklungspolitik zugänglich machen, und uns trotzdem Hoffnung geben?

Cristina de Middel, „Umeko“ aus der Serie Afronauts (2011) © cristina de middel/Magnum Photos/Agentur Focus
Fishy FeelingsSchwimmen jenseits des Menschlichen in der sowjetischen Science Fiction

Fishy Feelings
Schwimmen jenseits des Menschlichen in der sowjetischen Science Fiction

Alexandra Oberländer

Aleksandr Beliaevs Roman „Amphibienmann“ aus dem Jahr 1928 schildert die 
melodramatische Geschichte eines jungen Mannes in seinen frühen 20ern. Aufgrund einer Krankheit setzt sein Vater, ein genialer Wissenschaftler, dem jungen Mann Haifischkiemen ein, die es ihm erlauben, teils an Land, teils im Ozean zu leben. In den 1960er Jahren wurde diese Geschichte in einem äußerst populären Film mit demselben Namen verfilmt. Auf welche Weise wagte sich die sowjetische Science-Fiction über das Menschliche hinaus und welche Emotionen weckte sie?

Filmstill aus Chelovek amfibiya/Amphibian Man (1962)
 
Feeling VulnerableVolatile Körper in den Romanen von J.M. Coetzee und Ayhan Geçgin

Feeling Vulnerable
Volatile Körper in den Romanen von J.M. Coetzee und Ayhan Geçgin

Esra Sarioglu

Die Romane von Ayhan Geçgin, einem zeitgenössischen Schriftsteller aus der Türkei, stehen in engem Zusammenhang mit den Erkundungen kolonialer Hierarchien des Schriftstellers J.M. Coetzee. Durch intertextuelle Strategien erzählt Geçgin Visionen von dem, was Frantz Fanon die „Zone des Nichtseins“ nannte. Indem der Beitrag die körperliche Dimension in den Texten von Geçgin und Coetzee in den Vordergrund stellt, erörtert er, wie verletzliche, relationale und volatile Körper die Potenziale und Auslöschungen, die aus dem Bereich des Nicht-Seins hervorgehen, sichtbar machen.

© pixabay/kolibri5
 
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