Die Wiederversammlung der Gefühlsgemeinschaft

Raum, Zeit und Moral in der tibetischen Diaspora in Indien, c. 1959-1979

Frederik Schröer (abgeschlossene Dissertation, 2020)

Die vorliegende Dissertation analysiert die Rolle von Gefühlen in Prozessen diasporischer Gemeinschaftsbildung. Ihr konkreter Fall ist die Frühgeschichte der Gemeinschaft tibetischer Flüchtlinge in Indien, in den ersten zwei Dekaden ab 1959. Die Arbeit verfolgt zentrale Begriffe, Emotionen und Praktiken, welche in der exilischen Vergemeinschaftung essentiell waren, und beschreibt diesen Prozess als „Wiederversammlung“ (reassembly). Der Analysebegriff der „Gefühlsgemeinschaft“ konsolidiert dabei den Umstand, dass die Gemeinschaft sowohl gemeinsame Gefühle prägte sowie durch eben diese Gefühle zustande kam. Mit ihrem Fokus auf die Verflechtung der emotionalen Matrix der Diaspora mit Kategorien von Raum, Zeit und Moral zeigt diese Arbeit, dass keine dieser Kategorien außerhalb ihrer gemeinsamen Konstituierung und Wirkung adäquat verstanden werden können.

Die Dissertation gliedert sich in vier empirische Kapitel, die um vier generelle Analysekategorien organisiert sind. Eröffnend ist die Analyse von Relationen. In autobiographischen und anderen Narrativen des frühen Exiles mobilisierten die tibetischen Flüchtlinge mächtige (Gefühls-)Begriffe um, auf der einen Seite, räumliche Beziehungen zwischen Exil und Heimat zu etablieren. Zeitbeziehungen, auf der anderen Seite, verbanden Vergangenheiten, Gegenwarten, und Zukünfte der Tibeter in der Diaspora und der Tibeter in Tibet. Der zweite Analyseschritt zeigt Praktiken als zentralen Zugriff auf die praxeologische Rolle von Gefühlen in Vergemeinschaftung. Das „doing diaspora“ stützt sich auf—und verändert—geteilte Gefühlsrepertoire und verleiblichte Praktiken, im Gedenken eines neuen Feiertages in der Diaspora. Um sich (als) gemeinsam zu fühlen muss die Gemeinschaft (etwas) gemeinsam fühlen. Drittens beschreibt die Arbeit Strukturen, sowohl materiell wie immateriell, als im Werden begriffene Formationsprozesse der diasporischen Gemeinschaft in der Aushandlung zwischen Tradition und Innovation. Mit einem Blick auf das tibetische Exil weder als totalen Bruch noch lückenloser Kontinuität offenbart der Fokus auf die Dynamik der Strukturen—darunter Regierungsinstitutionen, Raumordnungen, oder politische und moralische Gefüge—wie Begriffe, Gefühle und Praktiken in flexiblen Ordnungsmustern eingebettet auf die besonderen Umstände des Exils reagieren konnten. Schließlich zeigt die Analyse von Erziehung das Zusammenkommen aller bisher gezeigten Faktoren. In der Anstrengung der Diaspora das historische Erbe zu bewahren und sich auf die Zukunft vorzubereiten offenbart sich die Herausforderung, die diasporische Identität über Generationen hinweg zu tradieren und zu stabilisieren.

So gegenwärtig das Thema der Migration heute wieder ist, so ist es doch ebenfalls ein menschheitsgeschichtliches Faktum. Die hier vorgelegte Arbeit ist ihrem Fall und Kontext spezifisch. Und doch ist es erhofft, dass die Erkenntnisse zur Rolle von Gefühlen in Gemeinschaftsbildung und Moral, sowie deren Verflechtungen mit Raum und Zeit, andere Forschung in der Globalgeschichte, Migrationsgeschichte, und Gefühlsgeschichte inspirieren mögen.

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