Die Geschichte des Verrückten

Ein neuer Blick auf staatliche Gewalt in Dersim

Cicek Ilengiz (abgeschlossenes Dissertationsprojekt, 2019)

Wie in vielen türkischen Städten begrüßen auch in Dersim (Tunceli), idyllisch gelegen in der Hügellandschaft oberhalb des Flusses Munzur, Statuen des "Vaters der Nation", Mustafa Kemal Atatürk, die Besucher. Doch nur ein paar Straßen vom Marktplatz entfernt bietet sich dem Betrachter ein deutlich ungewöhnlicherer Anblick: Wieder sieht man eine Statue, doch es ist die eines "Verrückten", tief in Gedanken versunken, wie es scheint.

Diese Statue des "Verrückten" Seyid Hüseyin dient als Ausgangspunkt für meine Untersuchung, in der anhand ethnographischer Forschungsmethoden und Oral History die vielschichtigen Konfigurationen sich widersprechender Erinnerungsnarrative und ihrer Manifestation in Dersim untersucht werden. Ruinen und Denkmäler sind materielle Zeugnisse, durch die Gegenwart und Erinnerung miteinander verwebt werden und die gleichzeitig auch auf die Kultur des Schweigens und Vergessens in der türkischen, kurdischen, armenischen und alevitischen Geschichte der Region verweisen.

Die Provinz von Dersim als ethnisch und religiös diverse Landschaft verweist auf zahlreiche Aspekte der komplexen und konfliktbeladenen Geschichte der modernen Türkei. Sie eignet sich daher im Besonderen  für eine Analyse der durch Staatssäkularismus und –rassismus motivierten Umformung und Zerstörung  moralischer Ökonomien in den Jahren seit 1915.  Im Stile einer historischen Ethnographiegeschichte untersucht diese Dissertation die Spuren von Wahnsinn in schriftlichen und mündlichen Quellen mit dem Ziel, die Veränderung moralischer Ökonomien in Folge der staatlichen Gewalt zu rekonstruieren.

Im Laufe meines Dissertationsprojekts analysiere ich die Auswirkungen  von Gewalt auf die Formierung neuer Werte- und Gefühlsstrukturen, die entscheidend von Erfahrungen von Verlust und Mangel geprägt sind. Die Analyse von Wahnsinn als Reaktion auf andauernde staatlich sanktionierte Gewalt erlaubt auch eine Neubewertung historischer Ereignisse, die zu Meilensteinen kollektiver Erinnerung in diesem umstrittenen Raum wurden: die Gewalterfahrung in Folge des Genozids von 1915 bis 1938, der Staatsstreichs von 1980, sowie der Bürgerkriegs zwischen der kurdischen Arbeiterpartei PKK (Partiya Karkerên Kurdistan) und der türkischen Armee seit 1984.

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