Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung

Eine Sozial- und Kulturgeschichte der politischen Ökonomie von Fürsorge seit 1946

Agnes Anna Arndt

Nicht erst seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine, auch in zahllosen Beiträgen über die Auswirkungen der Corona-Pandemie erreichte der Begriff des „Kindeswohls“ eine bislang nicht gekannte Aufmerksamkeit. Als Rechts- und zugleich über das Recht hinausweisender Fachbegriff dient das „Kindeswohl“ der Adressierung so unterschiedlicher Fragen wie der Chancen- und der Teilhabegerechtigkeit, der Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik, aber auch der Asyl- und Entwicklungspolitik. Zentrales Anliegen des semantisch und politisch oszillierenden Konzepts ist das ethisch gewollte, juristisch gleichwohl schwer durchsetzbare Schutzbedürfnis von Kindern in nationalem und globalem Maßstab. Seine öffentliche Wirkung verdankt der Terminus jedoch vor allem der Projektionsfläche, die er für die Artikulation vielfältiger und oftmals widersprüchlicher Interessen bereithält.

Denn anders als der Begriff suggeriert, geht es beim „Kindeswohl“ nicht um Fragen des „Wohlfühlens“. Und auch dass Kinder als Rechtsträger und Grundrechtsträger gelten, beantwortet bis heute nicht die Frage, was kindliches Wohlbefinden ausmacht. Sprach der Kommentar zum Ehegesetz von 1946 noch vom „seelischen Glück des Kindes, ging das Kindeswohl in einem Definitionsversuch von 1979 in der „Summe der Kinderrechte und der Kindesinteressen unter angemessener Berücksichtigung des jeweiligen Kindeswillens“ auf. Die Bedeutung der Kindeswohlkriterien – Förderung, Kontinuität und Kindeswillen – blieb ungenau, ihre Hierarchisierung im Einzelfall willkürlich. Dennoch handelt es sich bei so genannten unbestimmten Rechtsbegriffen wie dem des „Kindeswohls“ um juristisch wie politisch hochbrisante Zuschreibungen, die über die Heraus- und Inobhutnahme von Kindern aus Familien, über die Zuteilung von Sorge- und Umgangsrecht bis hin zur Vergabe von Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrechten entscheiden.

Ausgehend vom Konzept des „Kindeswohls“ strebt das Projekt die Analyse eines zentralen normativen Ordnungsmusters des Sozialen im europäischen Vergleich an. Angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Rechts-, Sozial- und Kulturgeschichte fragt es nach der Genese und Geschichte von Rechtsnormen und -praktiken, die als Ergebnis machtvoller kultureller Aushandlungen entstehen und als solche wiederum auf die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ordnung moderner Gesellschaften zurückwirken. Das Projekt fokussiert die Bindungs- und Orientierungskraft solcher Konzepte, den durch sie ausgelösten und in sie eingespeisten Wertewandel ebenso wie ihr Potential zur Regulierung, Reglementierung und Subjektivierung sozialer Gruppen und Akteure.

Konzepte von Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung werden somit als historisch ebenso variabler wie volatiler Bestandteil einer politischen Ökonomie der Fürsorge begriffen. Dies wirft die Frage auf, welchem Bedeutungswandel das körperliche und seelische Wohlergehen von Kindern unterlag und welche Auswirkungen dies für den Schutz der Kinder vor Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung hatte. Zugleich rücken politisch und wirtschaftlich determinierte Vorstellungen über Kinder und Kindheit, Mutter- und Vaterschaft sowie das staatliche „Wächteramt“ in den Fokus der Untersuchung.  

Zu den befragten Quellengattungen gehören Gerichts- und Prozessakten, Sachverständigengutachten, Gesetzestexte, Kommentare, Fachdebatten der Rechts- und Erziehungswissenschaften, der Psychologie und der Kindheits- und Rechtssoziologie sowie, nicht zuletzt, auch belletristische Texte, die – wie Ian McEwans Roman „Kindeswohl“ – auf ihre eigene Weise Auskunft über die Geschichte der politischen Ökonomie von Fürsorge seit 1946 geben. Das Projekt stützt sich auf einen deutsch-deutschen Vergleich seit 1946, wobei Entwicklungen in der Schweiz, in Österreich, der ehemaligen Tschechoslowakei und Polen in transferhistorischer und komparativer Perspektive einbezogen werden.

Zur Redakteursansicht