Demokratische Resilienz durch Verhaltenswissenschaften stärken
Artikel untersucht, welche Faktoren das demokratische Gleichgewicht gefährden können und zeigt schützende Maßnahmen auf.
Demokratien weltweit stehen unter Druck und drohen zunehmend, ins Autokratische abzurutschen. Doch oft zeigen sich demokratische Strukturen wehrhaft: Schutzmechanismen und der Einsatz der Zivilgesellschaft verhindern ein endgültiges Scheitern. Solche „Beinahe-Katastrophen“ sind mahnende Beispiele für gesellschaftspolitische Entwicklungen. Forschende der Universität Potsdam, des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der University of Bristol haben anhand historischer Beispiele untersucht, wie solche Krisen entstehen und wodurch abgewendet werden konnten. Ihre Ergebnisse zeigen, dass Verhaltensforschung helfen kann, Demokratien zu stärken. Dazu zählen etwa Interventionen, die den Einzelnen befähigen, systematische und manipulative Desinformation zu erkennen und sich zu schützen, oder dabei helfen, Polarisierung und Wählerapathie entgegenzutreten. Die Ergebnisse sind im Journal Behavioural Public Policy erschienen.
![Eine aktive Zivilgesellschaft schützt die Demokratie.](/1962206/original-1736196473.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjE5NjIyMDZ9--953c5f4c7acd292f91a3a31480fc4f4e2395bfb9)
2004 erreichte der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez eine Verfassungsänderung, die ihm eine zweite Amtszeit ermöglichte. Wie sich später herausstellte, gelang ihm dies mithilfe von Bestechung, Einschüchterung von Journalisten und Bespitzelung des Obersten Gerichtshofes. Sein Versuch, 2010 die Verfassung ein zweites Mal zu ändern und dadurch die Chance auf eine dritte Amtszeit zu erhalten, wurde allerdings vom Verfassungsgericht gestoppt. Moderne Demokratien brechen meist nicht plötzlich oder mit lautem Knall zusammen, sondern oftmals durch eine schleichende Erosion von Normen, Konventionen und Institutionen. Häufig sind es die politischen Eliten der Exekutive, die zunehmend Macht konsolidieren und dabei demokratische Prozesse und Institutionen schrittweise untergraben. In manchen Fällen gelingt es jedoch, eine autokratische Phase rasch rückgängig zu machen oder das vollständige Abkippen ins Autokratische im letzten Moment abzuwenden. Solche sogenannten „Beinahe-Katastrophen“ haben sich die Forschenden um Christoph Abels, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, an konkreten historischen Beispielen in Kolumbien (2010), Sri Lanka (2015) und Südkorea (2017) genauer angeschaut. Dabei greifen sie auf Konzepte der Verhaltensforschung zurück, die sich schon länger mit Unfällen und Beinahe-Katastrophen in soziotechnischen Systemen befasst. „Wir übernehmen das Drift-to-Danger-Modell aus der Unfallforschung, um demokratische Instabilität besser zu beschreiben und zu erklären“, so der Forscher. Dabei habe sich gezeigt, dass schrittweise Verletzungen von Normen in liberalen Demokratien einer dynamischen Entwicklung folgten, bei der ab einem bestimmten Kipppunkt die Rückkehr zu demokratischen Strukturen mit den üblichen Kontrollmechanismen, z.B. durch Wahlen oder zivilgesellschaftliches Engagement, kaum noch möglich sei. Dann könne ein vollständiger Übergang zu einem autoritären Regime sehr schnell erfolgen. Mahnendes historisches Beispiel ist Adolf Hitlers Errichtung einer Einparteiendiktatur und eines Polizeistaats innerhalb weniger Monate nach seiner Ernennung zum Reichskanzler. „Durch die Analyse von Fällen, in denen der Zerfall demokratischer Strukturen und Prozesse erfolgreich abgewendet oder rückgängig gemacht wurde, haben wir sowohl risikoverstärkende Faktoren als auch schützende Maßnahmen ermittelt, die zur Stärkung demokratischer Systeme beitragen“, sagt der Hauptautor der Studie Christoph M. Abels.
Normverletzungen durch politische Eliten
Bei allen untersuchten Beispielen hatten politische Eliten demokratische Normen verletzt und wurden letztlich durch eine Reaktion der Öffentlichkeit gestoppt. Die Normverletzungen wurden dabei durch eine Kombination aus Populismus, Fehlinformation und Polarisierung begünstigt. Diese Faktoren schwächten die Schutz- und Kontrollmechanismen, die politische Eliten normalerweise daran hindern, zentrale demokratische Normen zu untergraben. Doch die Analyse zeigte, dass die Rolle der Öffentlichkeit bei der Duldung oder Ablehnung dieser Verletzungen unterschiedlich ausfällt. „Ein entschiedenes Eintreten der Öffentlichkeit für den Erhalt demokratischer Normen – auch gegen eigene politische Interessen – ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Robustheit liberaler Demokratien. Leider untergraben Polarisierung und Populismus die gesellschaftliche Bereitschaft dafür zunehmend“, so Abels.
Nichtlinearität und schwere Voraussagbarkeit der Entwicklungen
Die zweite wichtige Erkenntnis der Forschenden betrifft die Nichtlinearität der Entwicklung, die dem Rückgang der Demokratie zugrunde liegt: „Einige Verstöße können aufgefangen werden, aber ein genauer Kipppunkt ist schwer vorhersagbar. Die genaue Bruchstelle, ab der die Abwärtsspirale unumkehrbar werden kann, könnte jederzeit nur eine weitere Normverletzung oder einen weiteren außer Kraft gesetzten Schutzmechanismus entfernt sein“, sagt Co-Autor Prof. Dr. Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Das offenbart, wie wichtig es ist, demokratischen Normen zu schützen und eklatante Verstöße zu benennen und zu verurteilen, da die Folgen des Schweigens nicht vorhersehbar sind.“
Deshalb haben die Forschenden die historische Analyse auch zum Anlass genommen, ihre Erkenntnisse auf aktuelle Entwicklungen in Großbritannien und den USA anzuwenden – und Ansätze dafür zu entwickeln, wie die Verhaltenswissenschaften die Demokratie stärken können. Das US-amerikanische System der „checks and balances“, das vielen anderen Demokratien als Vorbild gedient hat, scheine in mehreren Bereichen zu erodieren, schreiben die Forschenden. Die Gesellschaft sei auf allen Ebenen, von der politischen Führung bis zu den Bürgern, stark polarisiert. Normverstöße seien häufiger geworden, was jüngst darin gipfelte, dass Donald Trump die Legitimität der Präsidentschaftswahlen 2020 anzweifelte.
Mit Verhaltensinterventionen entgegensteuern
„Verhaltensinterventionen sind ein weiteres Instrument aus dem Werkzeugkasten derjenigen, die zusammenarbeiten wollen, um den Rückgang der Demokratien weltweit zu stoppen und umzudrehen. Die meisten dieser Interventionen richten sich an die Öffentlichkeit und zielen darauf ab, das Bewusstsein für die Risiken des demokratischen Rückgangs zu schärfen und die Widerstandsfähigkeit gegenüber Manipulationen und falschen Informationen zu erhöhen“, fasst Prof. Stephan Lewandowsky, Ph.D., Gastprofessor an der Universität Potsdam und assoziierter Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die kommenden Forschungsaufgaben zusammen. Dazu gehört, Menschen dabei zu helfen, Falschinformationen besser zu erkennen sowie gesellschaftliche Polarisierung zu verringern, indem falsche Vorstellungen über die politische Opposition korrigiert werden.
In Kürze:
- Demokratische Systeme sind durch schleichende Erosion von Normen und Institutionen gefährdet, meist ausgelöst durch politische Eliten, die Macht konsolidieren und demokratische Prozesse untergraben.
- „Beinahe-Katastrophen“ zeigen, dass demokratische Rückschläge abgewendet werden können, wenn die Öffentlichkeit aktiv Normverletzungen entgegentritt, auch gegen eigene Interessen.
- Demokratische Rückschritte verlaufen unvorhersehbar und nicht linear; Kipppunkte, ab denen ein autoritäres Regime unumkehrbar wird, sind schwer vorhersehbar.
- Verhaltenswissenschaftliche Interventionen können helfen, Normverstöße zu bekämpfen und demokratische Systeme zu schützen
Originalpublikation: