Widerspruchsregelung führt nicht zu mehr Organspenden und riskiert Unsicherheit über den Wunsch des Verstorbenen

Psychologe Ralph Hertwig als Sachverständiger vor dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages zum Thema Organspende geladen

31. Januar 2025

Am 29. Januar tagte der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, um über eine mögliche Änderung des Transplantationsgesetzes und die Einführung der Widerspruchslösung zu beraten.  Diese Regelung setzt eine grundsätzliche Spendenbereitschaft voraus, sofern dieser nicht ausdrücklich widersprochen wird. In der Debatte beriefen sich die Abgeordneten auch auf die Expertise von Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Hertwig betonte, dass neben verfassungsrechtlichen und ethischen Aspekten insbesondere die empirische Evidenz nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Man dürfe bei der Berücksichtigung der Studienlage kein “Rosinenpicken” betreiben. Er verwies auf eine Studie, die er gemeinsam mit Kolleg*innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, der MSB Medical School Berlin und des Max Planck Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research im November 2024 veröffentlicht hatte. In dieser Studie analysierten die Wissenschaftler*innen Langzeitdaten aus fünf Ländern (Argentinien, Chile, Schweden, Uruguay und Wales), die von einer Zustimmungslösung zur Widerspruchsregelung wechselten. Mithilfe eines Längsschnittansatzes untersuchten sie die Auswirkungen auf die Organspenderraten. Die Daten stammen aus den internationalen Registern IRODaT und GODT. Von den 39 Ländern, die bis 2019 ihre Regelungen änderten, konnten nur fünf einbezogen werden, da entweder historische Daten fehlten oder die Widerspruchslösung bereits informell praktiziert wurde (Dallacker et. al, 2024). Im Ausschuss erläutert Hertwig die Ergebnisse so: „Wir haben bewusst Länder gewählt, für die belastbare Daten vorliegen. In diesen Fällen konnten wir jedoch keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Einführung der Widerspruchsregelung und einer steigenden Zahl an Organspenden feststellen“.

Die Rolle der Angehörigen und kommunikative Herausforderungen

Auf die Frage nach der Rolle der Angehörigen verwies Hertwig auf ihre große Autorität. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2012, die 54 Länder verglich – 25 mit Widerspruchslösung, 29 mit Zustimmungslösung – zeigte, dass in vielen Staaten selbst ein explizit geäußerter Spenderwille nicht ausreicht, wenn die Familie widerspricht. In zum Beispiel 15 von 19 Ländern mit einer Widerspruchslösung, in denen es eine Möglichkeit gibt, den Wunsch, Organspender zu sein, auszudrücken, übergehen medizinische Fachkräfte den dokumentierten Wunsch des Verstorbenen, wenn die Angehörigen Einwände haben (Rosenblum et. al, 2012). „Das zeigt, wie zentral die Zustimmung der Familie bleibt“, so Hertwig.

Darüber hinaus sei die Widerspruchsregelung aus kommunikativer Sicht problematisch. Psychologische Experimente zeigen, dass sie ein schwaches Signal sendet: Die sogenannte erschlossene Zustimmung führt oft zu Unsicherheiten – insbesondere in den Familien, die häufig nicht wissen, was der Verstorbene tatsächlich gewollt hätte. Im Gegensatz dazu ermögliche eine explizite Zustimmungslösung eine klarere Entscheidungsgrundlage für alle Beteiligten.

Strukturelle Maßnahmen sind entscheidend

Hertwig verwies auch auf eine Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2022, die zeigt, dass der Anteil der Menschen mit einem Organspendeausweis seit 2012 von 22 auf 40 Prozent gestiegen ist (Zimmering & Hammes, 2023). Dennoch ist die tatsächliche Spendenrate in diesem Zeitraum gesunken. „Das bedeutet, dass eine größere Zahl potenzieller Spender*innen nicht zwangsläufig zu mehr tatsächlichen Organspenden führt. Entscheidend sind vielmehr strukturelle Maßnahmen“, betonte er. Dazu zählen etwa eine verbesserte Infrastruktur und der flächendeckende Einsatz von Transplantationskoordinatoren vor Ort wie der Fall Spanien zeigt.

Wissenschaftliche Impulse für politische Entscheidungen

Hertwig setzt sich seit Jahren für verhaltenswissenschaftlich fundierte Ansätze ein, die Menschen in ihrer Entscheidungsfähigkeit stärken. Als Verfechter des sogenannten Boostings geht er davon aus, dass Individuen – entgegen gängiger Annahmen – zu kompetenten und reflektierten Entscheidungen fähig sind. Dieser Ansatz unterscheidet sich vom Nudging, indem er nicht auf subtile Lenkung, sondern auf Aufklärung und Stärkung der Eigenverantwortung setzt.

In einem kürzlich veröffentlichten Übersichtsartikel (Herzog & Hertwig, 2025) hebt er das ungenutzte Potenzial der Verhaltensforschung für die Politikgestaltung hervor. Seine Arbeit liefert wertvolle Impulse dafür, wie wissenschaftliche Erkenntnisse dazu beitragen können, Menschen zu befähigen und gesellschaftlich nachhaltige Entscheidungen zu fördern.

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