Eine politische Kulturgeschichte der Schweigeminute

Karsten Lichau

Die Schweigeminute ist eine politische Inszenierung, die aus dem Gedenken an die im Ersten Weltkrieg getöteten Soldaten hervorgegangen und in den darauffolgenden Jahren in zahlreichen westeuropäischen Ländern zu einem wichtigen Bestandteil nationaler Erinnerungskulturen geworden ist.

Indem es Verbindungen zwischen mikrohistorischen Praktiken und deren komplexen sozial-, politik- und kulturgeschichtlichen Kontexten herausarbeitet, geht das Forschungsprojekt der Frage nach, wie akustische, emotionale und religiöse/säkulare Phänomene zur unterschiedlichen Resonanz der Schweigeminute in den politischen Kulturen Großbritanniens, Frankreichs und des Deutschen Reichs zwischen 1919 und 1935 beitrugen.

Im Zentrum steht dabei die Frage nach der akustisch-emotionalen Inszenierung eines kollektiven politischen Körpers. Aus einer sound- und emotionengeschichtlichen Perspektive sollen die unterschiedlichen Praktiken untersucht werden, die der Beschwörung einer politischen Einheit dienen: Die verschiedenen Klänge und Geräusche, die den akustischen Rahmen der Zeremonie bilden (Musikstücke, Glockengeläut, Kanonenschüsse oder Signalraketen), zielen ebenso wie die Schweigepraktiken auf die Artikulation einer emotionalen Gemeinschaft. Diese erweist sich jedoch als keineswegs homogen – das Spektrum von hervorgerufenen Emotionen, das sich in offiziellen Aufrufen, Zeitungsartikeln und persönlichen Berichten findet, umfasst höchst unterschiedliche Gefühle (Trauer, Stolz, Verehrung, Dankbarkeit, Freude, aber auch Wut oder Hass) und Gefühlsintensitäten (von tiefer Ergriffenheit über eher oberflächliche Partizipation bis hin zu Indifferenz und offener Distanzierung). Und die emotionale Inszenierung ist ebenso wie die akustische anfällig für bewusst intendierte oder ungewollte Störungen, die bis zum Scheitern der gesamten Zeremonie führen können.

Zugleich macht eine kultur- und wissenshistorische Perspektive die Ambivalenz der Schweigeminute deutlich, die gleichermaßen religiöse wie säkulare Deutungen ermöglicht und damit auf die instabilen und dynamischen "Formationen des Säkularen" (Talal Asad) verweist: als Versprechen einer zumindest momenthaften "Rückverzauberung" säkularer Lebenswelten durch Stille, Stillstand und eine "sakrale Aura", aber auch als exakte, erst durch moderne Techniken rationaler linearer Zeitmessung ermöglichte Synchronisierung säkularer Körper im öffentlichen Raum.

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