(Un)Gewissheit in der Liebe

von Julia Lieth

28. April 2020

Die Liebe in den Zeiten der Cholera lautet ein Romantitel des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez. Florentino, der junge Protagonist, sieht in Fermina die Liebe seines Lebens. Sie geht aufgrund sozialer Konventionen eine andere Ehe ein. Mehr als 50 Jahre lang vertraut Florentino darauf, dass seine Liebe nach dem Tod seines Rivalen eine Chance bekommt. Eingebettet in den Kontext Kolumbiens im ausgehenden 19. Jahrhundert und die Zeit der Cholera-Epidemie, eröffnet die Geschichte einen Blick auf die Frage nach „wahrer Liebe“ und ihrem Verhältnis zu zeitlicher und räumlicher Distanz.

Die Liebe in den Zeiten von Corona – welche Formen nimmt sie an? Auf die Frage, wie sich das Corona-Virus sozialgeschichtlich niederschlagen wird, gibt es viele Prognosen – vom Babyboom über einen Rückgang der Geburtenrate, zu steigenden Zahlen häuslicher Gewalt und einer Preisung dessen, "was wirklich zählt": zwischenmenschliche Beziehungen. Wie post-Corona Zeiten aussehen werden ist ungewiss. Gewiss ist, dass es gegenwärtig schmerzt, auf ein Miteinander zu verzichten. Die Zeit schreitet fort und letztlich ist sie doch begrenzt. Corona, Isolation und Kontaktsperre auch? Für den Moment trennt Corona Menschen. Und selbst die, die mit räumlichen wie auch zeitlichen Distanzen sehr vertraut sind – die, deren Liebe über Stadt, Land oder Wasser hinausführt – stürzt das Virus in Zeiten neuer (Un)Gewissheit.

Zeit-und Raumreise.

Ein paar Staaten weiter südöstlich der kolumbianischen Szenerie von Marquez‘ Roman wird am 12.03.2020 bekanntgegeben, dass der Flugverkehr in vier Tagen eingestellt wird: Beunruhigung? Nein. Wenige Stunden später: Hier, dort? Er, sie? Schweißausbruch. Hämmernde Finger auf der Tastatur. Kein Flug. Ein Anruf bei der Botschaft. Warteschleifen. Quarantäne. Zweisamkeit. 23.03.2020, am Flughafen: Getummel. Unterschrift. Ticket. Zu welchem Preis? Ein Kuss und der Rucksack voller Fragen: Wirst du gesund bleiben? Wann werden wir uns wiedersehen? Hast du die Bescheinigung der Botschaft für die Polizei bei der Straßenkontrolle? Ein leerer Magen. Gibt es Essen im Rückholflieger? Aber ja! Die Dame links fliegt häufig. Sie freut sich auf Berlin, deutsche Haferflocken, Mann und Kind. Ihre Mutter und Parkinson lässt sie zurück. Ist sie vielleicht infiziert? Oder der hustende Mann dort? Abflug. Ein Schlucken, vier Filme und ein Hühnchen für Vegetarier*innen später: Gedränge am Gepäckband. Zuletzt: der Koffer mit lila Schleife. Ein Atmen und dann: Ungewissheit.

Liebe.

Und nun? Eine WhatsApp-Nachricht. Florentino konnte Fermina Ende des 19. Jahrhunderts aus sicherer Entfernung beobachten und ihr Briefe schreiben. Für einen Soldaten und seine Geliebte bedeuteten Kriegszeiten, wenn überhaupt, eine sehr unregelmäßige Korrespondenz. Das Verfassen der Zeilen nahm emotionale Kraft und Zeit in Anspruch; ihr Informationsgehalt hatte lange Wartezeiten. Das globale Zeitalter samt Mobilität und digitalem Gesicht macht es möglich, dass die Liebe von der Reise zwischen den Kontinenten und in Notebooks lebt. Technologische Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts haben neue Transportmittel und Medien geschaffen, die eine Komprimierung von Zeit und Raum ermöglichen. Unabhängig von Distanzen ist damit Fernbeziehung gleich Fernbeziehung geworden. Die virtuelle Mobilität von Zeichen, Ton und Bild erlaubt es, die Ferne als Zwischenintervall mit neuen Liebespraktiken zu gestalten.

Eine Grundlage dafür ist der Bedeutungswandel von (Un)Gewissheit: das Unwissen im 19. Jahrhundert, ob der Brief zugestellt wurde und ob der oder die Geliebte noch lebt und zurückliebt, übersetzt sich heute in ein oder zwei, graue oder blaue Häkchen und ein Herz-emoji; vielleicht sogar in ein Videogespräch bei Wein, Musik und Kerzenlicht. Der Kuss, als Wort auf Papier eine visuelle und taktile Erfahrung, die an Erinnerung und Fantasie geknüpft ist, wird vor dem Bildschirm auch hörbar und vielleicht sofort erwidert. Die vernetzte Welt hat die Ungewissheit als langanhaltende gegenwärtige Realität im Zeitalter des Briefes eliminiert und in ein kurzanhaltendes Momentum verwandelt, das sich quasi simultan auflösen lässt. Die Liebeserfahrung auf Distanz hat sich folglich mit neuen Erwartungen und Verständnissen von (Un)Sicherheit, Hoffnung und Geduld verwoben, die der Ungewissheit durch eine relativ stetige Vergewisserung trotzen können.

Glaube.

Die Fragen, die über das gegenwärtige Befinden der Geliebten hinausgehen und in einer ferneren Zukunft liegen – die nächste Zusammenkunft und die Erhaltung des Gesundheitszustandes – haben Liebende in Cholera- und Corona-Zeiten jedoch gemein: Es sind solche Fragen, die der menschlichen Autonomie entgleiten und damit höherer oder staatlicher Gewalt unterliegen. Im Brief des 19. Jahrhunderts fand die Auseinandersetzung mit dieser Form der Ungewissheit häufig in Bezugnahme auf Gott und niedergeschriebenen Gebeten statt. Wie werden solche Ängste in einem Zeitalter kompensiert, das nicht nur als globalisiert und digitalisiert, sondern auch als säkularisiert gilt? Der Ruf zu Gott wird zum Anruf der Liebenden und wohlmöglich einer gemeinsamen Meditation von Bildschirm zu Bildschirm. Das gegenwärtige und wiederholbare Momentum konzentrierter Zweisamkeit transzendiert die Sorgen über den Zeitvertreib und -verbleib bis zum nächsten Flug; bis zum nächsten Husten. Und dennoch: Die Stärkung des Glaubens an die Liebe wirkt damals wie heute – im Vertrauen auf Gott wie in der virtuellen Vergegenwärtigung der Geliebten – nur durch die Akzeptanz einer gewissen Abhängigkeit und des Kontrollverlusts.

Hoffnung.

Die Quarantäne ist wohl die größte Offenbarung dieser Fremdbestimmung. Sie mag allerdings auch der Schlüssel zu einer neuen Flexibilität sein, die zumindest für transatlantische Fernbeziehungen im „Normalzustand“ kaum realisierbar ist: Sie erlaubt es theoretisch Tageszeiten und daran gekoppelte Routinen zu brechen; Tag und Nacht zwar bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen, aber ohne zeitlichen Versatz gemeinsam zu verbringen. Die Quarantäne kann Raum- und Zeitzonen aufheben – zumindest in der geteilten Welt vor dem Bildschirm. Der Schritt vor die Tür mag zwei unterschiedliche Welten eröffnen – den frühlingswarmen Spaziergang im Grünen und die herbstlich-kühle Begegnung mit Polizei und Militär – und damit ausreichend Gesprächsstoff über historische und kulturelle Unterschiede, die nicht unerheblich sind für eine entscheidende gesellschaftliche wie auch persönliche Frage: Welchen Umgang wollen wir mit der Ungewissheit pflegen und welche Rolle kann oder soll die mobile Liebe im Moment des Stillstands dabei spielen?

Im kolumbianischen Spanisch steht der Begriff cólera nicht nur für ein Krankheitsbild; er bedeutet auch „Leidenschaft“. Insofern ist es sinnbildlich, wenn am Ende des Romans, nachdem Ferminas Ehemann gestorben ist, die Cholerafahne weht und den Protagonisten einen Moment ungestörter Wiedervereinigung schenkt, in der die Liebe zur Gewissheit wird. Es bleibt die Hoffnung, dass es kein halbes Jahrhundert dauert bis (Fern)Liebende nicht mehr ihre Notebooks, sondern sich selbst in die Arme nehmen und es in der Zwischenzeit nicht zum digitalen Zusammenbruch kommt. Ob sie in letzterem Fall an der Liebe festhalten würden, wie Briefeschreiber*innen an ihrem Stift und Gott im 19. Jahrhundert? Gewiss ungewiss!  

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