Abstand und Anstand

von Ute Frevert

13. Mai 2020

Es gibt einen neuen Volkssport, und er hat auch schon einen Namen. Im Englischen heißt er social distancing shaming, auf Deutsch könnte man ihn Abstandsscham nennen. Das Phänomen wird in Zeitungen beschrieben, in Blogs kommentiert und auf Twitter geteilt. Es ist das alte Lied im neuen Gewand: Menschen stellen Mitmenschen bloß, die sich ihrer Meinung nach nicht an Regeln halten, und wollen auf diese Weise Regelkonformität erzwingen. Der Beschämte soll sich schämen und sein Verhalten ändern.

Meistens geht es um den Regelabstand von zwei Metern, den wir in der Öffentlichkeit einhalten sollen, um eine Tröpfcheninfektion mit dem Corona-Virus zu vermeiden. Viele richten sich danach, und insgesamt gehen Bürgerinnen und Bürger beeindruckend diszipliniert mit den staatlichen Vorgaben um.  Aber es gibt, wie immer, schwarze Schafe.  Sie werden von anderen, die stets alles richtig machen, öffentlich zur Rede gestellt – und manchmal auch an den Pranger. Zumindest empfinden sie es so.

Die Beispiele sind bereits jetzt Legion. Manche Zeitgenossen schimpfen und keifen, einige nehmen das Messband heraus oder finden andere ausdrucksstarke Wege, das zu rügen, was sie als Gefährdungsverhalten wahrnehmen. Eltern, die ihre Kinder nicht an der Leine führen, werden vorwurfsvoll zurechtgewiesen, am liebsten von älteren Spaziergängern mit Hund.  Jogger ernten böse Blicke und harte Worte, wenn sie Passanten nicht weiträumig ausweichen.  Manche Nachbarn und Eltern unterrichten einander auf Internetplattformen, wer sich wieder mal daneben benommen hat, oder hängen entsprechende Informationen plakativ ins Fenster. In den Dörfern der Müritz und an der deutschen Ostseeküste spielen Bürger Polizei und verscheuchen jene, die ihren ersten Wohnsitz woanders haben.  

Im Prinzip steht jeder und jede unter Verdacht: Wie oft geht sie einkaufen? Wie häufig führt er den Hund aus? Muss sie denn jeden zweiten Tag  joggen? Befinden sich Personen in seiner Wohnung, die dort nicht hingehören? Bekommt der alte Vater Geburtstagsbesuch von Kindern oder Enkeln?  Alle beobachten einander, manche häufiger und genauer als andere. Und nutzen das Internet und die sozialen Medien, um ihre Beobachtungen weiträumig mitzuteilen.

Ein solches Verhalten ist nicht  neu. In den letzten Jahren hat sich das, was im Englischen social shaming genannt wird, verbreitet und ausgedehnt. Wer in den Augen der Mitmenschen zu dick ist, als Frau zu viele sexuelle Kontakte hat, die falsche Kleidung trägt, zu schnell auf der Autobahn fährt oder bei Wassermangel den Rasen sprüht, wird öffentlich vorgeführt. 2019, als die Klimadebatte an Fahrt aufnahm, sind „Flugscham“, „Plastikscham“, „Fleischscham“, „Autoscham“  oder „Kinderscham“ hinzugekommen. Bilder, auf denen man die Objekte der Verachtung bloßstellt, werden auf Facebook und online-Plattformen gepostet.

Oft steht Schadenfreude dahinter, die schiere Lust an der Demütigung anderer, die die eigenen Mängel und Versagensängste vergessen macht. Immer häufiger aber wirft sich Beschämung ein politisch-moralisches Mäntelchen über. Oder besser: sie hüllt sich in den Königsmantel der überlegenen Moral. Im vergangenen Jahr war es der Schutz des Klimas, der alle Formen öffentlicher Beschämung rechtfertigte. Wer zu viel CO2 verursachte, ob als SUV-Fahrerin, Fluggast, Nicht-Vegetarier oder Paar mit Elternwunsch,  trug Schuld an der drohenden Klimakatastrophe und bekam die Missbilligung  der Klimaschützer hautnah zu spüren. Heute ist es der Schutz der Gesundheit, der den moralischen Zeigefinger wachsamer Mitbürgerinnen und Mitbürger adelt.

Was ist daran falsch und anstößig? Haben Wachsamkeit und  finger pointing nicht auch ihr Gutes? Zeugen sie nicht geradezu von einer aktiven Zivilgesellschaft, die ihre Belange selber in die Hand nimmt, anstatt sie dem Staat und der Polizei zu überantworten? Ist nicht jeder, der einen anderen auf sein Fehlverhalten hinweist, ein guter Bürger, der das Gemeinwohl vor Schaden bewahrt?

So praktizierten es schon die Dorfgemeinschaften der Frühen Neuzeit, die sich das Recht herausnahmen, Einwohner, die gegen die guten Sitten verstießen, öffentlich dafür zu tadeln. So sahen es auch die Gewerkschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Streikbrecher an den Pranger stellten oder missliebige Bosse an den symbolischen Galgen wünschten. Nazis trieben Liebespaare durch die Straßen, die angeblich die „deutsche Ehre“ beschmutzten.  Die RAF schließlich demütigte Hanns Martin Schleyer 1977, indem sie dem Arbeitgeberpräsidenten ein Schild umhängte und ihn als „Gefangenen“ auswies, dem ein revolutionärer Urteilsspruch bevorstand – ausgesprochen von der militanten Avantgarde  des vom Kapitalismus geknechteten Volkes.

Solche Praktiken in Volkes Namen bedienten sich bei den klassischen Schand- und Ehrenstrafen, die vordem die herrschaftliche Justiz ausgesprochen hatte. Pranger, Auspeitschungen und Brandmarkungen gehörten seit dem späten Mittelalter zum Strafarsenal der Obrigkeit. Sie ergänzten das materielle Strafmaß und fügten ihm eine soziale Dimension hinzu, die die Einheit von Obrigkeit und Volk demonstrieren sollte.  Dass Übeltäter vor allen Augen gerichtet wurden, ließ das Volk an diesem Gericht teilhaben und bestärkte die Geltung der verletzten Normen, Regeln und Gesetze. Einer ähnlichen Logik folgte die Kirchenbuße, die gleichfalls mit Praktiken sozialer Beschämung und Bloßstellung arbeitete. 

Wenn solche Praktiken aus der Hand des Staates und der Kirchen in die Hände  ganz normaler Männer und Frauen übergingen und Instrumente der „Volksjustiz“ wurden, könnte das als Ausdruck ihrer Demokratisierung erscheinen. In der Tat gibt es Stimmen, die öffentliche Beschämungen als bürgerschaftliche Gegenwehr gegen jene empfehlen, die dem Gesamtinteresse schaden. Bring on the shame, forderte jüngst ein kanadischer Journalist, um damit die neue Distanz-Etikette durchzusetzen. Es gehe schließlich um Leben und Tod, und wer nicht hören wolle, müsse eben fühlen.

Aber das Argument hat seine Tücken – und kam in der Leserschaft auch nicht gut an. Die sich zu selbsternannten Richtern über das Verhalten anderer machen, kultivieren eine denunziatorische Blockwartmentalität, die einer demokratischen Gesellschaft unwürdig ist. Denn Demokratie beruht nicht auf Misstrauen und der Beobachtung aller durch alle. Sie beruht auf dem wechselseitigen Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Anstand spielt dabei eine große Rolle und übersetzt sich in höfliche Rücksichtnahme und Unschuldsvermutung.  Das ist das genaue Gegenteil dessen, was Heinrich Hoffmanns Bilderbuch von 1845 predigte: „Pfui da steht er, der garst‘ge Struwwelpeter!“  Mit ausgestrecktem Finger auf andere zu zeigen,  wird Kindern heute nicht mehr als Tugend beigebracht, sondern gilt als peinlich-respektloser Übergriff.

Das schließt nicht aus, Kritik zu üben. Wem ein bestimmtes Verhalten im öffentlichen Raum sehr unangenehm auffällt, kann den Verursacher darauf hinweisen. Das mögen urinierende Männer sein oder distanzlose Teenager. Kritik ist möglich und sinnvoll, aber sie soll ruhig , freundlich, zurückhaltend  vorgebracht werden. Und sie soll unter vier Augen stattfinden, ohne Publikum. Damit verliert sie die Beschämungsqualität, die jeder öffentlichen Zurechtweisung eigen ist. Und gewinnt an Eindringlichkeit. Denn auf Beschämung reagieren die meisten nicht mit einer Änderung ihres Verhaltens, sondern trotzig und abwehrend. Wer mit Anstand Abstand einfordert, kommt seinem Ziel näher als jemand, der sich als Retter der Volksgesundheit in die Brust wirft und lautstark jene anklagt, die sie vorgeblich gefährden.

Im „Dritten Reich“, aber auch in der frühen DDR sprach man schamlos von „Volksschädlingen“ und rief zur Wachsamkeit und Denunziation auf. Darüber sollten Demokraten  erhaben sein – auch in der jetzigen Krise, die, wie immerzu betont wird, alles je Dagewesene in den Schatten stellt. In der Tat verlangt sie uns ein hohes Maß an Verzicht und Selbstbeschränkung ab. Dass Menschen auf diesen Zwang auch zwanghaft reagieren, ist nicht verwunderlich.  Woran ich mich selber halten muss, das soll gefälligst auch anderen zur Richtschnur dienen.  Die ungewohnten Umstände, verbunden mit viel freier Zeit, fördern eine Überwachungsmentalität, die  Frustration mit Bestrafungsphantasien koppelt und selbstgerecht beansprucht, das Wohl des Ganzen zu befördern.

Das ist die andere, hässlichere Seite der auf Disziplin, Eigenkontrolle und Solidarität setzenden Bürgerlichkeit, die wir in Zeiten der Pandemie einüben und weitgehend erfolgreich praktizieren. Diese Seite ist auch mir nicht fremd. Dagegen hilft nur eines: Anstand. Manche nennen es Zivilisation.

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