Emotionale Übertragungen
Religiöse und nichtreligiöse Gefühle in Nordindien, ca. 1840-1920
Max Stille (Projektlaufzeit 2017-2019)
Wir alle wissen, wo welche Gefühle hingehören: religiöse Gefühle an heilige Orte oder zu religiösen Festen, Spannung zu Krimis, Kontemplation ins Museum. Und wir wissen, wie es ist, wenn wir das Museum, die Kirche oder die Moschee verlassen oder das Buch beiseitelegen – die Gefühle dauern an oder verflüchtigen sich, verstärken sich oder nehmen ab oder sie überlagern sich. Wir wissen all das, da wir gelernt haben, Gefühle zu begrenzen, zu übertragen, in Bezug zu setzen. Und dabei bauen wir auf gesellschaftliche Konventionen, die wiederum historischem Wandel unterliegen.
Das Projekt untersucht, wie Menschen sich bestimmte Gefühle in einem Erfahrungsbereich aneignen und dann in einen anderen übertragen. Wie diskutieren oder praktizieren die historischen Akteure solche Übertragungen? Gibt es Emotionen, die spezifisch fortschrittlich, spezifisch religiös oder spezifisch literarisch sind – oder gar spezifisch muslimisch, spezifisch mystisch, spezifisch dichterisch? Wie gehen Menschen emotional mit sozialer Differenzierung, neuen Medien und Vorstellungsräumen um?
Im Nordindien des Untersuchungszeitraums verschieben sich Erfahrungsbereiche und neue treten hinzu. Medien und Räume verändern sich grundlegend. Religion wird durch überregional agierende Bildungs- und Missionsbewegungen zur Sache öffentlicher Diskussion jenseits von Gelehrtenzirkeln und zur Identitätsbasis gesellschaftlicher Gruppen. Sie ist verzahnt mit zunehmend getrennten "kolonialen" und "indischen" Bereichen. In neu entstehenden Zeitschriften und Zeitungen wie den ersten Romanen und Biographien wird über die Grenzen zwischen Gruppen und Weltanschauungen diskutiert. Schriftsteller entwerfen Figuren, die Merkmale der eigenen Gruppe tragen, zwischen den verschiedenen Bereichen vermitteln oder paradigmatisch an sich arbeiten, um in einer als neu empfundenen Welt bestehen zu können.
In den Diskussionen zeitgenössischer muslimischer Sozialreformer spielt die religiöse und emotionale Bildung eine große Rolle. Sie fragen, wie neue und neu verstandene Medien, von religiöser Rede bis zur Literatur, auf die Gesellschaft einwirken kann und hinterfragen dabei die vorherigen Begrenzungen literarischer und religiöser Erfahrung. Gleichzeitig findet eine Ausrichtung an der "Realität" statt, die andere Erfahrungsbereiche abwertet. Doch bleibt eine solche Hierarchisierung und Naturalisierung von Gefühlsbereichen oft Theorie, während die literarische und religiöse Praxis eine Vielzahl von Modellen weiterträgt und aufnimmt, die auf diskontinuierliche Räume setzen: Alltagsfrömmigkeit schließt weiter Wunder mit ein wie die Besonderheit poetischer Gefühle in Produktion und Rezeption literarischer Werke ist.
Die Historisierung emotionaler Übertragungen bietet die Möglichkeit, bestehende Meistererzählungen der Moderne zu ergänzen. Die hier gestellten Fragen stellen eine mögliche Fragmentierung des Individuums durch eine sich vervielfältigende Zahl an Erfahrungsbereichen in den Vordergrund. Sie vermögen somit zum historischen Verständnis der gegenwärtigen Herausforderung einer Welt beitragen, die sich ihrerseits einem Schub neuer Medien und räumlicher Veränderungen stellen muss.