Begeisterung oder Geisterspiele? Emotionen im Fußball in Zeiten von Corona

von Julia Wambach

28. April 2020

Das bislang einzige Geisterspiel in der Geschichte der 1. Fußballbundesliga, bei dem am 11. März 2020 Borussia Mönchengladbach den 1. FC Köln empfing, erregte ungewohnte Gefühle: Borussia Mönchengladbachs Patrick Herrmann sprach von einem "sehr seltsame[n] Feeling" und für den Schiedsrichter Deniz Aytekin war das Spiel "beängstigend", ohne Leidenschaft, etwas würde massiv fehlen (Berliner Morgenpost 19.04.2020, SZ 12.03.2020) Was fehlte waren die Fans, die Emotionen, vor allem die Begeisterung.

Trotz – oder vielleicht gerade wegen? – der zunehmenden Domestizierung, Kommerzialisierung und Eventisierung (Gerd Dembowski) des Fußballs seit den 1990er Jahren gehört die Begeisterung zum Fußball einfach dazu. Begeisterung gibt es zwar auch für und in anderen Sportarten, doch der Profi-Fußball schafft es, wie kaum eine andere Sportart, Massen zu mobilisieren und aus der Begeisterung für diesen Sport Kapital zu schlagen: Besucherzahlen in den Stadien steigen, die Zahl der Fans, die an den Bildschirmen das Geschehen verfolgen, ist hoch: Die zehn höchsten Einschaltquoten im deutschen Fernsehen überhaupt wurden allesamt von Fußballspielen erreicht, die höchste beim WM-Finale 2014 Deutschland gegen Argentinien (34,65 Millionen). Streit gibt es immer wieder darum, wer die Hoheit über die Begeisterung im Fußball hat. Die Vereine, die Fans, die Medien oder das Geld? Besonders hervorgetan haben sich dabei sogenannte Ultras. Diese Fangruppierungen, die Ende der 1990er Jahre in Deutschland nach italienischem Vorbild entstanden, haben es sich zur Aufgabe machten, die Stimmung im Stadion zu organisieren.

Dieser Streit, der Anfang März noch in den drastischen Protesten mehrerer Ultra-Fan-Gruppen gegen Dietmar Hopp, dem Mäzen des Bundesligisten Hoffenheim 99, in mehreren Stadien zu eskalieren drohte, hat sich jedoch seit dem Auftreten des Corona-Virus (kurzfristig) gelegt. Nicht zuletzt dadurch, dass Hopp zufälligerweise auch Hauptanteilseigner der Firma CureVac, einem Tübinger Biopharmaunternehmen, ist. Dieses Unternehmen machte in den letzten Wochen Schlagzeilen, als es in Begriff war, einen Corona-Impfstoff zu entwickeln, den, nach inzwischen von der Firma dementierten Medienberichten, der amerikanische Präsident gedachte, für sein Land zu erwerben.

Und überhaupt waren die Fans – samt der Begeisterung– mit Corona aus den Stadien gebannt. Die Gefahr war zu groß, dass sich Menschen mit dem Virus massenhaft ansteckten, wie es bei dem Champions-League-Achtelfinale zwischen Bergamo und dem FC Valencia am 19. Februar vor über 44.000 Zuschauern vermutet wurde. Denn kurz darauf wurden 35 % der Personen in und um die Profimannschaft Bergamos positiv getestet und die Region um Bergamo zu einer der tödlichsten Krisenherde der Pandemie. Nun sollte also ohne Zuschauer in den Stadien gespielt werden.

Ursprünglich waren Geisterspiele von der UEFA als Strafe eingeführt worden, wenn sich die Fans des gastgebenden Vereins bei einem früheren Spiel Fehltritte erlaubt hatten, das erste Mal 1980 gegen den englischen Klub West Ham United: Geister statt Begeisterung. Emotionslosigkeit als Strafe, aber auch eine empfindliche Geldstrafe für den Gastgeber, dem die Einnahmen der Zuschauer verlorengehen. Nicht allein deshalb führte jüngst Nico Schäfer, Mitglied der Kommission Fußball der Deutschen Fußball Liga, bei der Diskussion um die Fortsetzung der zuschauerlosen Bundesligaspiele den Begriff "Fernsehspiel" ein, der weitaus weniger beängstigend klinge als Geisterspiel (11-Freunde Interview, 7.4.2020)

Die Bundesligaspiele wurden aber doch abgesagt, an einem Freitag, den 13. (März 2020). Das spiellose Wochenende wurde aber dennoch nicht zur emotionslosen und fußballlosen Zeit: Das begeisternde Ritual am Samstagnachmittag wurde im Radio und Fernsehen mit der Übertragung von Klassikern aufrechterhalten, oft zugespitzt auf die emotionalsten Momente der Saison: Abstiegskrimis und Siegestaumel sollten nun begeistern. Fans trafen sich virtuell zu Online-Kicks ihrer Lieblingsmannschaften im "Bundesligahomechallenge", wie immer am Samstag um 15.30 Uhr und live im Pay-TV. "Zocken für die Solidarität" nannte es das Magazin 11 Freunde.

Solidarität wurde, anstelle der Begeisterung, zum Gefühl der Corona-Pandemie. Die Vereine und Ultra-Gruppen besannen sich auf ihre "gesellschaftliche Aufgabe" neben dem Platz und beschworen das "Wir-Gefühl". So wurden von den Ultras "auf Schalke" sogenannte "Kumpelkisten" mit Lebensmitteln in der Stadt verteilt sowie Spenden zur befreundeten italienischen "Curva Sud Siberiana" nach Salerno gesendet. Die Schalker Solidarität manifestierte sich außerdem in der Hilfe von kleineren in Not geratenen Unternehmen in Gelsenkirchen mit dem Motto #NurImWir. Die Berliner Herthaner spendeten das Geld für ihr wöchentliches Stadionbier ihren Vereinskneipen (#AktionHerthakneipe). Unter dem Hashtag #StPauliSolidarisch! organisierte der Hamburger Verein u.a. einen Notduschbetrieb für Obdachlose und unterstützte die lokale Clubszene. Und auch die Spieler beteiligten sich an den Corona-Solidaritätsaktionen. Die Internetseite des FC Bayern München stellte stolz die "große Solidarität" der Profispieler zur Schau, die mit der Aktion #WeKickCorona 3,7 Millionen Euro für gemeinnützige Einrichtungen gesammelt hatten, oder, wie Thomas Müller, Essen für Corona-Helfer in der oberbayerischen Heimat spendierten. Der (teilweise) Gehaltsverzicht der Profis zur Unterstützung ihrer Vereine war ein weiterer Ausdruck der Fußball-Solidarität in der Krise. Toni Kroos von Real Madrid, der einer der wenigen Spieler war, der sich daran nicht beteiligen wollte, wurde prompt von der spanischen Presse als gefühllos gebrandmarkt; Fans forderten daraufhin Kroos auf, sich solidarisch zu verhalten.

Letztlich gehe es bei den Solidaritätsbekundungen aber auch um die Erhaltung des eigenen privilegierten Wirtschaftszweigs, kritisierten nicht wenige in diesen Tagen. Denn aufgrund der Einnahmeausfälle aus den Fernsehspielen gerieten auch Erstligaklubs in Zahlungsschwierigkeiten. Der Ruf nach Geisterspielen wurde deshalb seit Ostern wieder lauter und damit brach erneut der Konflikt um die Hoheit der Begeisterung im Fußball wieder auf: Ein Zusammenschluss von Ultra-Fangruppen wehrte sich gegen diese Wiederaufnahme der Spiele ohne Publikum. Denn für die Ultras sind sie ein Zeichen für die Kommerzialisierung des Fußballs ohne Herz. Sie hingegen plädieren für – da haben wir wieder das Gefühl – eine solidarische Lösung der Krise zwischen den Vereinen aller Ligen (Aufruf 16.04.2020).

Wir werden sehen, wie dieser Streit ausgeht. In der Zwischenzeit rüsten sich die Profis mit mentalem Training für die Geisterspiele und die Fans versuchen, doch ein wenig Begeisterung ins leere Stadion zu schleusen, sei es mit Pappfiguren von sich selbst zum Aufstellen im Stadion, mit Geisterchoreographien in Form von Bannern und Plakaten oder über eine geplante Fan-App, die Begeisterung in akustische Geräusche, wie Klatschen und Jubel, umwandelt und per Knopfdruck über die Lautsprecher ins Stadion schickt.
Ganz sicher ist: Corona hat die Rolle der Fans im Stadion gestärkt. Das sind nicht nur die Ultras, aber Geisterspiele ohne Fans, ohne Stimmungsmacher im Stadion, funktionieren nicht. Hoheit über die Begeisterung, so scheint es, haben letztendlich doch die Fans – ohne sie macht Fußball keinen Spaß.

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