Unstatistik des Monats: Armut ist nicht Ungleichheit

23. Oktober 2012

Die Unstatistik des Monats Oktober beträgt 15,8 Prozent und stammt vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden: „15,8 Prozent der Bevölkerung waren 2010 armutsgefährdet“, meldeten die Amtsstatistiker am vergangenen 17. Oktober.

Die Zahl ist korrekt, nicht aber deren Interpretation. Als „armutsgefährdet“ gilt, wer jährlich netto weniger als 11.426 Euro zur Verfügung hat. Der Hauptkritikpunkt dabei ist die Berechnung dieser Armutsgrenze. Dieser liegen europaweit 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zugrunde. Wenn sich also alle Einkommen verdoppeln, dann verdoppelt sich auch die Armutsgrenze, und der Anteil der Armen bleibt der gleiche wie zuvor.

Ferner ist in armen Ländern die Armutsgrenze geringer als in wohlhabenden Staaten. Zieht also ein in Deutschland lebender Gastarbeiter aus Portugal, der hier im Jahr 11.000 Euro netto zur Verfügung hat, in seine Heimat zurück, so nimmt die kollektive Armut in Deutschland und Portugal gleichermaßen ab. Denn in der Bundesrepublik gilt man mit 11.000 Euro jährlich als arm, in Portugal dagegen nicht. Selbst wenn besagter Portugiese zuhause lediglich ein Nettoeinkommen von 7.000 Euro jährlich hätte, wäre er dort statistisch-offiziell nicht arm.

Jeder am Durchschnittseinkommen festgemachte Armutsbegriff misst daher nicht die Armut (wie beispielsweise die Definition der Weltbank, die alle Menschen als arm einstuft, die von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssen), sondern die Ungleichheit. Deshalb ließe sich auch die in den deutschen Medien auf Grundlage der oben genannten Statistik vielfach beklagte Armut sehr leicht dadurch beheben, dass man zum Beispiel allen Menschen in Deutschland die über die derzeitige Armutsgrenze hinausgehenden Einkommen wegnähme und nach Peking an die chinesische Staatsbank überwiese. Damit wären die Einkommen hierzulande gleichmäßiger verteilt, die neue Armutsgrenze läge sehr viel niedriger, und die Armut wäre nahezu vollständig verschwunden.

Zur Aktion „Unstatistik des Monats“

Gemeinsam mit dem Bochumer Ökonomen Thomas Bauer (RWI für Wirtschaftsforschung) und dem Dortmunder Statistiker Walter Krämer (TU Dortmund) hat der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, im Jahr 2012 die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben gerufen. Ziel der Maßnahme ist es, monatlich sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen zu hinterfragen. Die Aktion will so dazu beitragen, mit statistischen Daten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu deuten und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoll und allgemein verständlich zu beschreiben.

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