Unstatistik des Monats: Der „Heilige Gral der Krebsforschung“ ist oft kaum besser als ein Münzwurf

4. Oktober 2019

Die Unstatistik des Monats September ist die angebliche Treffsicherheit des Bluttests für zehn verschiedene Krebsarten im Frühstadium, den Forscher der Cleveland Clinic entwickelt haben.

Über ihn berichtete unter anderem die Online-Ausgabe des „Focus“ am 3. September unter dem Titel „Bluttest erkennt 10 Tumorarten im Frühstadium“ und spricht von einer Treffsicherheit bis 90 Prozent. Der Studienleiter nennt den Test im Artikel den „Heiligen Gral der Krebsforschung“. Dabei wird jedoch wie schon beim Heidelberger Brustkrebs-Bluttest (siehe Unstatistik Februar und Mai 2019) lediglich die Trefferrate genannt, nicht jedoch die Falsch-Alarm-Rate. Es bleibt daher völlig unklar, wie häufig der Test bei gesunden Personen fälschlicherweise Krebs diagnostiziert.

Für die genannten zehn Krebsarten liefert das Zentrum für Krebsregisterdaten des Robert-Koch-Instituts in Berlin unter anderem die Anzahl der altersstandardisierten Neuerkrankungen je 100.000 Männer und Frauen. Kombiniert man diese Daten mit verschiedenen Annahmen über die Falsch-Alarm-Rate, so ergibt sich ein ganz anderes Bild, das umso bedenklicher wird, je seltener eine Krebsart ist.

Angenommen, ein Krebs tritt bei 1 Prozent der Bevölkerung je Jahr neu auf, d.h. unter 100.000 Personen erkranken 1.000 jährlich neu. Dann bedeutet eine Trefferrate von 99 Prozent, dass von diesen 1.000 Personen 990 richtigerweise als krank erkannt werden. Eine Falsch-Alarm-Rate von 1 Prozent, also eine Richtig-Alarm-Rate von ebenfalls 99 Prozent, bedeutet jedoch, dass unter den gesunden 99.000 Personen ebenfalls 990 als krank erkannt werden. In jedem zweiten Fall wäre also eine als krank diagnostizierte Person gesund.

Verwenden wir die angegebenen Trefferraten und zugleich eine sehr kleine hypothetische Falsch-Alarm-Rate von 0,001 Prozent, so wären jede zweite mit Speiseröhrenkrebs diagnostizierte Frau und zwei von drei mit Kehlkopfkrebs diagnostizierte Frauen gar nicht krank. Unterstellen wir hingegen eine Falsch-Alarm-Rate von 46 Prozent, wie sie der Heidelberger Bluttest aufweist, so liegt der Anteil der fälschlicherweise als krank diagnostizierten Frauen und Männer durchgehend bei mehr als 99,9 Prozent. Fast niemand mit Krebsdiagnose hätte also tatsächlich Krebs.

Es ist schlimm genug, dass Medienberichte über solche neuartigen Bluttests falsche Hoffnungen schüren, obwohl solche Tests womöglich unzählige Menschen irrtümlich mit schwersten Diagnosen belasten würden. Besonders schlimm ist aber, dass selbst Skandale wie derjenige um den Heidelberger Bluttest nicht dazu führen, dass Journalisten mit mehr Sorgfalt über solche scheinbaren Sensationen berichten.

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