Unstatistik des Monats: Mehr Unfälle durch vereinfachten Motorradführerschein?
Die Unstatistik des Monats Juni ist die Interpretation der österreichischen Unfallstatistik durch die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Die BASt stellt fest, dass sich die Verkehrssicherheit in Österreich erkennbar verschlechtert habe, seit im Jahr 1997 eine Regelung zum vereinfachten Erwerb der Fahrerlaubnis für Leichtkrafträder eingeführt wurde. Österreich hatte den „Code 111“, der eine Person zum Lenken eines Motorrads der Klasse A1 berechtigt und ohne zusätzliche Fahrprüfung im B-Führerschein eingetragen wird, 1997 eingeführt.
Diese Interpretation wird von zahlreichen Medien in Deutschland zitiert, darunter „Spiegel online“ und „Der Tagesspiegel“. Anlass sind die Pläne von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, eine vergleichbare Regelung in Deutschland einzuführen. Nach sechs Übungsstunden und 90 Minuten Theorie sollen Autofahrer, die seit mindestens fünf Jahren einen Führerschein der Klasse B besitzen, zukünftig die Fahrerlaubnis für Krafträder der Klasse A1 mit einem Hubraum von bis zu 125 Kubikzentimeter und einer Motorleistung von nicht mehr als 11 Kilowatt, also 15 PS, ohne zusätzliche Fahrprüfung erhalten dürfen. Wer seinen Führerschein der Klasse B vor dem 1. April 1980 erworben hat, der darf diese Motorräder bereits fahren.
Deutsche Experten reagieren „entsetzt“, wie zahlreiche Medien von „AutoBILD“ bis „ZEIT“ einhellig berichten. Das hatten ihre österreichischen Kollegen 1997 allerdings auch schon getan. Von einer „dramatischen Trendumkehr in der Motorrad-Unfallstatistik“ war in einer Pressemitteilung des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV) zu lesen. Man befürchtete katastrophale Folgen, wenn ungeübte Autofahrer plötzlich aufs Motorrad umstiegen. Denn die meisten Motorradunfälle seien Folge von Fahrfehlern. (Dass aktuell fast drei Viertel aller Motorradunfälle in Deutschland gar nicht selbstverschuldet sind, fällt gern unter den Tisch.)
Statistiken zeigen keine längerfristige Trendwende in der Verkehrssicherheit durch erleichterten Zugang zu Leichtkrafträdern
Natürlich sind mehr Motorradunfälle zu erwarten, wenn mehr Menschen mit dem Motorrad unterwegs sind. Das zu begreifen, dafür reicht gesunder Menschenverstand. Mit der Interpretation von Statistiken hingegen ist es nicht ganz so einfach. So behauptet der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR), dass nach der Einführung des Code 111 die Zahl der Zulassungen und der Unfälle zugenommen habe. Die BASt kommt zum bereits zitierten Ergebnis, die Verkehrssicherheit in Österreich habe sich erkennbar verschlechtert. Stimmt das wirklich?
Es lohnt die Mühe, die Studien und Statistiken selbst zu lesen. Ausgerechnet das KfV hat im Jahr 2017 eine detaillierte Analyse der Unfallursachen bei Motorradunfällen vorgenommen, die die Statistiken seit 1990 genauestens unter die Lupe nimmt. In der Tat gab es in Österreich 1997 ein gutes Viertel mehr zugelassene Motorräder und ein knappes Drittel mehr Motorradunfälle als im Vorjahr. Im Verhältnis stieg die Zahl der Toten je 100.000 Motorräder sprunghaft um rund 20 Prozent an.
Aber eine Trendwende der Verkehrssicherheit lässt sich aus diesen Daten eben nicht ableiten. Erstens ist die Zahl zugelassener Motorräder Jahr für Jahr kontinuierlich gestiegen. Zweitens hat sich die Rate der durch Motorräder zu Tode gekommenen Verkehrsteilnehmer*innen, also die absolute Zahl der Getöteten geteilt durch die zugelassenen Motorräder, seit 1990 um ganze 80 Prozent verringert. Schon 1998 lag diese Rate wieder deutlich unter dem Niveau von 1996. Drittens schließlich ist selbst die absolute Anzahl der Motorradtoten zurückgegangen; sie lag 2015 immerhin fast ein Fünftel unter der Zahl von 1990.
Das bedeutet keinesfalls, dass Fahrsicherheit und damit Verkehrssicherheit keine Übung erfordern. Wer mit der besonderen Fahrphysik eines Zweirads und dem durch einen Helm eingeschränkten Sichtfeld nicht vertraut ist, der gefährdet sich und andere. Das spräche aber eher dafür, jede*n Motorradfahrer*in zum regelmäßigen Nachweis seiner/ihrer Fahrsicherheit zu verpflichten, als eine Regelung zu verhindern, die in vielen europäischen Ländern längst gängige Praxis ist.