Die Reform der Reform
Die neu geordnete gymnasiale Oberstufe auf dem Prüfstand der empirischen Bildungsforschung
Die gymnasiale Oberstufe wird derzeit in vielen Bundesländern einer einschneidenden Reform unterzogen. In deren Zentrum steht die Stärkung der Leistungen in Mathematik, Deutsch und Fremdsprachen. Baden-Württemberg hat in diesem Prozess eine Vorreiterrolle eingenommen. Wie die Ergebnisse einer empirischen Vergleichsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Universität Tübingen zeigen, ist ein moderater Anstieg der Mathematikleistungen bei den Baden-Württembergischen Abiturienten zu verzeichnen. Eine ebenfalls erhoffte Leistungssteigerung in Englisch blieb dagegen aus. Die Wissenschaftler sehen einen hohen Bedarf für weitere Untersuchungen, die alle Auswirkungen der Oberstufenreform – zum Beispiel auf andere Fächer und die allgemeine Studierfähigkeit – beleuchten.
Nahezu geräuschlos vollzieht sich derzeit in vielen Bundesländern die Reform der gymnasialen Oberstufe. Im Zentrum steht die Abkehr vom Kurssystem hin zur Wiedereinführung stärker kanonförmiger Oberstufenmodelle, die die Unterscheidung von Grund- und Leistungskursen weitgehend aufheben, die Zahl der Prüfungsfächer im Abitur heraufsetzen und Wahlfreiheiten für die Oberstufenschülerinnen und -schüler beschneiden. Ermöglicht wurden diese Veränderungen durch die Husumer Vereinbarung der Kultusministerkonferenz zur gymnasialen Oberstufe vom 22. Oktober 1999. Aber führen diese einschneidenden Veränderungen tatsächlich zur der gewünschten Stärkung und Vereinheitlichung der Kompetenzen der Abiturienten in den traditionellen Kernbereichen des Gymnasiums – Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen – sowie einer stärkeren Betonung der Naturwissenschaften? Und sind die Abiturienten jetzt besser oder schlechter auf ihre späteren Studienfächer an den Universitäten vorbereitet?
Wissenschaftler des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Universität Tübingen sind diesen Fragen nachgegangen und haben die neu geordnete gymnasiale Oberstufe einer Prüfung unterzogen. Möglich wurde der empirische Vergleich der Leistungen vor und nach der Reform durch einen besonderen Umstand. Bereits im Schuljahr 2001/2002 führte das MPI für Bildungsforschung im Abschlussjahrgang der allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien Baden-Württembergs eine Studie (TOSCA-2002) mit mehr als 5.000 Schülern von 150 Schulen durch, bei der unter anderem Kenntnisse in Mathematik und Englisch, die Vorbereitung auf das Studium sowie die Studienfachwahl durch die Abiturienten untersucht wurde. Durch eine Wiederholung der TOSCA-Studie im Schuljahr 2005/06 (TOSCA-2006), ließ sich die einmalige Chance nutzen, die Effekte der zwischenzeitlich erfolgten Veränderung in der Organisation der gymnasialen Oberstufe auf das Leistungsniveau und die Studierfähigkeit der Abiturienten zu untersuchen.
Moderate Leistungsanstiege in Mathematik
Die bisher vorliegen Befunde zeigen ein differenziertes Bild: Bei den Mathematikleistungen Baden-Württembergischer Abiturienten war ein moderater Anstieg bei gleichzeitiger Homogenisierung zu verzeichnen. Dagegen ließen sich die erhofften Steigerungen bei den Englischleistungen nicht nachweisen, obwohl es zu einer Abnahme von Leistungsunterschieden kam. Auch bei der naturwissenschaftlichen Grundbildung fand sich kein positiver Effekt auf die Leistung. „Eine Bewertung, inwieweit die gemessene Steigerung der Mathematikleistung auch von praktischer Bedeutung ist, ist derzeit nur begrenzt möglich“, erläutert Prof. Ulrich Trautwein von der Universität Tübingen. „Um beurteilen zu können, ob die Abiturientinnen und Abiturienten nach der Reform besser vorbereitet an die Hochschulen kommen, sind weitere empirische Untersuchungen unbedingt erforderlich.“ Trautwein weist darüber hinaus darauf hin, dass auch mögliche unerwünschte Auswirkungen, zum Beispiel auf die Fachleistungen in Gesellschaftswissenschaften und im künstlerisch-musischen Bereich, untersucht werden sollten.
Mehrheit der Abiturienten hätte die gymnasiale Oberstufe lieber unter bisherigen Bedingungen durchlaufen
Auch die Bewertung der Reform durch die betroffenen Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte fiel differenziert aus. Während Abiturienten und Mathematikfachleiter die Auswirkungen der Neuordnung insgesamt eher negativ einschätzten, fiel das Globalurteil der befragten Schulleiter deutlich positiver aus. Die Mehrheit der Abiturienten hätte jedoch die gymnasiale Oberstufe lieber unter bisherigen Bedingungen durchlaufen.