Ungleiche Chancen beim Schulübergang
Bildungsexperten erläutern Faktoren von Chancenungleichheit beim Übergang auf die Sekundarschule
Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule stellt Weichen mit weit reichendem Einfluss auf die Bildungs- und Berufsbiographien der Schülerinnen und Schüler. Im neuen Sonderheft „Bildungsentscheidungen“ der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) widmen sich namhafte Bildungsexperten dem Übergang am Ende der Grundschule in das Sekundarschulsystem und geben einen Gesamtüberblick über alle jüngeren Studien aus Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie. Auf knapp 400 Seiten zeigen sie auf, dass soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem existiert und erläutern die dafür verantwortlichen Faktoren und Mechanismen (ZfE, Sonderheft Bildungsentscheidungen, VS Verlag 2010, Herausgeber Jürgen Baumert, Kai Maaz, Ulrich Trautwein).
Zehn Jahre ist es her, seit der PISA-Schock das deutsche Bildungssystem erschütterte. PISA zeigt nicht nur auf, dass die Leistungen deutscher Schüler nur Mittelmaß darstellten, sondern machte auch unmissverständlich klar, dass der Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler maßgeblich von ihrer sozialen Herkunft bestimmt wird. Nachfolgende PISA-Wellen sowie die großen Schulleistungsstudien TIMSS und IGLU lassen einen Trend zum Besseren erkennen, aber nach wie vor gilt soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem als Realität. Aber an welchen Stellen entsteht Ungleichheit und welche Faktoren begünstigen sie?
Die Übergangssituation ist eine entscheidende Stelle, an der Ungleichheit entsteht
Das neue Sonderheft „Bildungsentscheidungen“ der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) geht diesem Thema systematisch nach und widmet sich dem Übergang am Ende der Grundschule in das Sekundarschulsystem. Die Herausgeber Jürgen Baumert, Kai Maaz, beide vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, und Ulrich Trautwein, Universität Tübingen, beginnen den Band mit einem Überblicksbeitrag zur sozialen Ungleichheit im Bildungssystem. Basierend auf dem aktuellen theoretischen und empirischen Forschungsstand identifizieren Sie die Übergangssituation als eine der entscheidenden Stellen, an der Ungleichheit entsteht.
Soziale Herkunft und Leistungsniveau der Mitschüler stellen Weichen für den Gymnasialbesuch
Kai Maaz und Gabriel Nagy gehen in ihrem Beitrag auf die primären und sekundären Effekte der sozialen Herkunft auf den Übergang ein. Sie zeigen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Ungleichheit bereits im Vorfeld des Übergangs entsteht und auf Unterschiede beim Kompetenzerwerb, der Benotung und der Schulformempfehlung zurückgeführt werden kann.
Die Schulformempfehlung des Lehrers besitzt in einigen Bundesländern reinen Vorschlagscharakter, sodass Eltern davon unabhängig die Schulform wählen können. In anderen Bundesländern dagegen sind weitere Leistungsnachweise erforderlich, sofern Eltern eine höhere Schulform als die empfohlene anstreben. Die Studie von Cornelia Gresch und ihren Mitautoren untersucht erstmals die Frage, wie sich die für die Übergangsempfehlung geltenden unterschiedlichen rechtlichen Regelungen aller Bundesländer auf die Chancengleichheit auswirken. Es zeigte sich, dass Eltern aus sozial privilegierten Verhältnissen ihre Kinder häufiger auch ohne entsprechende Empfehlung aufs Gymnasium schicken als Eltern aus weniger privilegierten Verhältnissen. Dieses Verhalten ist in allen Bundesländern zu beobachten, eine Verstärkung der sozialen Ungleichheit kommt aber insbesondere dort zum Tragen, wo die Schulformempfehlung des Lehrers nicht bindend ist.
Anne Milek und Mitautoren analysieren die Bedeutung sogenannter Referenzgruppeneffekte auf die Übergangsempfehlung im bundesweiten Vergleich. Sie zeigen, dass Lehrkräfte die Schulformempfehlung für den einzelnen Schüler nicht unabhängig vom Leistungsniveau der Klassenkameraden aussprechen. Vielmehr zeigt sich in allen Bundesländern, dass Lehrer die individuelle Leistung des Schülers in Abhängigkeit von der durchschnittlichen Klassenleistung beurteilen.
Weitere Beiträge befassen sich unter anderem mit den Bildungserwartungen der Eltern, dem Erleben des Übergangsprozesses durch die Kinder sowie dem Einfluss der ethnischen Herkunft auf den Übergang.