Atom-Ausstieg: Der Faktor Mensch kann zum Sicherheitsrisiko werden

Psychologische Studie untersucht Verhalten von beteiligten Akteuren

Deutschland hat die Abschaltung von Atomkraftwerken mit festen Daten beschlossen. Dies bedeutet das Ende einer ganzen Branche. Doch was heißt es für die Sicherheit, wenn die Branche immer weniger zu gewinnen hat? Eine Studie untersucht, in welchem Maße die eigene Interessen in den Vordergrund rücken, je näher der Zeitpunkt der Abschaltung kommt. Dabei stützen sich die Wissenschaftler der Universität Basel und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin auf das sogenannte „Endgame“-Verhalten in der Spieltheorie. Die Studie erschien in der Fachzeitschrift Behavioral Science & Policy.

Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 wurde in Deutschland die Stilllegung von acht Kernkraftwerken mit sofortiger Wirkung beschlossen. Den übrigen neun Anlagen wurden feste Abschaltdaten zugeteilt, wobei die letzten 2022 vom Netz gehen sollen. Auch in der Schweiz wird die Abschaltung von Kernkraftwerken weiterhin diskutiert, nachdem die Atomausstiegsinitiative, welche die Abschaltung der Kernkraftwerke nach höchstens 45 Jahren Betriebszeit verlangte, im November 2016 abgelehnt wurde.

Die Psychologen Markus Schöbel und Jörg Rieskamp von der Universität Basel sowie Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersuchten, ob die zeitlich näher rückende Abschaltung der operativen Kernkraftwerke zu „Endgame“-Verhalten in der Kerntechnikbranche führt, etwa bei Anlagenmitarbeitern, Managern, Betreibern, Zulieferern und Behörden. Endgame-Verhalten in der Spieltheorie bedeutet, dass sich die Akteure zunehmend „egoistisch“ verhalten, wenn ein „Spiel“ sich dem Ende nähert. Übertragen auf den Kontext der kerntechnischen Industrie kann dies bedeuten, dass für die Beteiligten auf allen Ebenen zunehmend die eigenen Interessen in den Vordergrund rücken. Eine solche Tendenz könnte negative Auswirkungen auf die Sicherheit kerntechnischer Anlagen haben.

Ob es Anzeichen für das in der Spieltheorie bekannte „Endgame“-Verhalten in der Kerntechnikbranche gibt, untersuchten die Wissenschaftler anhand von drei Ansätzen. Betrachtet wurden dabei das Verhalten der kerntechnischen Industrie und des Staates, soweit es öffentlich zugänglich und in den Medien berichtet wurde; die Statistiken zu meldepflichtigen Ereignissen in kerntechnischen Anlagen und das sicherheitsrelevante Investitionsverhalten von Probanden in experimentellen Untersuchungen.

Die Ereignisse und Verhaltenweisen der Akteure im Zuge des Atomausstiegs in Deutschland, welche man der öffentlichen Berichterstattung entnehmen kann, legen den Schluss nahe, dass sowohl das Vertrauen als auch das kooperative Verhalten zwischen Betreibern und staatlichen Entscheidungsträgern seit dem Ausstiegsbeschluss zunehmend abnimmt. Hervorgerufen durch den absehbaren Niedergang einer ganzen Branche, die für viele als Arbeitgeber kaum noch attraktiv ist, sind zudem Motivations- aber auch Kompetenzverluste bei den Mitarbeitern zu vermuten.

In den fünf Jahren nach dem Ausstiegsbeschluss 2011 fanden die Psychologen keinen statistischen Anstieg von meldepflichtigen Ereignissen, wie beispielsweise Unfälle, Störfälle oder sonstige sicherheitsrelevante Ereignisse in kerntechnischen Anlagen. Dies wäre nach dem „Endgame“-Verhalten zu erwarten gewesen. Allerdings war bereits 2001 zwischen den AKW-Betreibern und der damaligen Bundesregierung ein Ausstieg vereinbart worden. Im Fünfjahreszeitraum nach diesem Ausstiegsbeschluss stieg die Anzahl meldepflichtiger Ereignisse im halbjährlichen Durchschnitt von 2.8 auf 3.9 an.

Die verhaltensbasierten Experimente mit Probanden zeigten, dass das „Endgame“-Verhalten nur auftrat, wenn ein konkreter Endzeitpunkt feststand. In den Experimenten nahmen die Probanden die Rolle von Managern ein und mussten in mehreren Durchgängen entscheiden, ob sie in die Sicherheit einer Anlage investieren oder den Gewinn optimierem wollten – was mit einem Anstieg der Unfall-Wahrscheinlichkeiten einherging. Zum Ende der Durchgänge wurde deutlich weniger in Sicherheit investiert. Nur wenn der konkrete Endzeitpunkt der Durchgänge im Unklaren blieb, trat kein „Endgame“-Verhalten auf. Dies galt auch, wenn die Probanden die Konsequenzen ihrer Entscheidungen für andere mitberücksichtigen sollten.

Diese Ergebnisse sind zwar nicht eindeutig, aber es sei wichtig, mögliche verhaltensbasierte Konsequenzen beim Ausstieg aus sicherheitssensitiven Technologien und Industrien zu analysieren, so die Autoren. „Länder, die den Ausstieg aus der Kernenergie in Erwägung ziehen oder bereits umsetzen, sollten dabei nicht nur die technischen, sondern auch psychologischen Risiken in Betracht ziehen“, sagt Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ein politisch beschlossenes Ausstiegsverfahren könnte sonst bei der Umsetzung neue und nicht vorhergesehene Risiken mit sich bringen.

Originalstudie
Schöbel, M., Hertwig, R., & Rieskamp, J. (2017). Phasing out a risky technology: An endgame problem in German nuclear power plants? Behavioral Science & Policy, 3(2), 41–54.

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