Wie das „Rauschen“ im Gehirn unser Verhalten beeinflusst
Neuronale Variabilität bildet eine Grundlage dafür, wie wir die Welt wahrnehmen und auf sie reagieren
Die neuronale Aktivität des Gehirns ist unregelmäßig und ändert sich von einem Moment zum nächsten. Bisher wurde angenommen, dass dieses scheinbare „Rauschen“ auf zufällige natürliche Schwankungen oder Messfehler zurückzuführen ist. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung haben jedoch gezeigt, dass diese neuronale Variabilität einen einzigartigen Einblick in die Funktionsweise des Gehirns eröffnen kann. In einem „Perspective Article“, der in der Fachzeitschrift Neuron erschienen ist, argumentieren die Autoren, dass Forscher*innen sich mehr auf die Rolle der neuronalen Variabilität konzentrieren müssen, um vollständig zu verstehen, wie Verhalten im Gehirn entsteht.
Wenn Neurowissenschaftler*innen das Gehirn untersuchen, scheint seine Aktivität in jedem Moment zu variieren. Mal ist sie höher oder niedriger, mal rhythmisch oder unregelmäßig. Lange war es absoluter Standard, Hirnaktivität über viele experimentelle Durchgänge zu mitteln, um zu visualisieren, wie das Gehirn arbeitet. Dabei wurden die unregelmäßigen, scheinbar zufälligen Muster in den neuronalen Signalen jedoch oft außer Acht gelassen. Auffallend ist, dass solche Unregelmäßigkeiten in der neuronalen Aktivität unabhängig davon auftreten, ob einzelne Neuronen oder ganze Hirnregionen untersucht werden. Gehirne erscheinen immer „verrauscht“. Dies wirft die Frage auf, was eine solche neuronale Variabilität über die Funktion des Gehirns verraten könnte.
In einer Vielzahl von Studien haben Forscher der Lifespan Neural Dynamics Group (LNDG) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und des Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research in den letzten zehn Jahren systematisch das „Rauschen“ des Gehirns untersucht und gezeigt, dass neuronale Variabilität einen direkten Einfluss auf menschliches Verhalten hat. In einem neuen „Perspective Article“, der in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht wurde, zeigt die Forschungsgruppe in Zusammenarbeit mit der Universität zu Lübeck, dass neuronale Variabilität wichtig ist, um den Zusammenhang von Gehirnaktivität und Verhalten verstehen zu können. „Tiere und Menschen können sich sehr gut an Umweltanforderungen anpassen, aber wie passt das mit der beobachteten Unregelmäßigkeit der Gehirnaktivität zusammen? Wir glauben, dass die Neurowissenschaften sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen müssen, dass Verhalten aufgrund von neuronaler Variabilität entstehen kann, nicht nur trotz dieser“, sagt Leonhard Waschke, Erstautor des Artikels und LNDG-Postdoktorand.
Eine kürzlich in der Fachzeitschrift eLife veröffentlichte Studie der Arbeitsgruppe veranschaulicht den direkten Zusammenhang zwischen neuronaler Variabilität und Verhalten. Die Gehirnaktivität von Studienteilnehmer*innen wurde per Elektroenzephalogramm (EEG) gemessen, während sie schwache visuelle Muster auf einem Bildschirm entdecken mussten. Wenn die Teilnehmer*innen aufgefordert wurden, so viele Muster wie möglich zu erkennen, stieg die neuronale Variabilität im Allgemeinen an, wohingegen sie herunterreguliert wurde, wenn Teilnehmer*innen aufgefordert wurden, Fehler zu vermeiden. Personen, die eher in der Lage waren, ihre neuronale Variabilität an diese Aufgabenanforderungen anzupassen, erbrachten auch bessere Leistungen. „Je besser ein Gehirn sein ‚Rauschen‘ regulieren kann, desto besser kann es unbekannte Informationen verarbeiten und auf sie reagieren. Traditionelle Methoden zur Analyse der Gehirnaktivität lassen dieses Phänomen einfach außer Acht “, sagt LNDG-Postdoktorand Niels Kloosterman, Erstautor dieser Studie und Koautor des Artikels in Neuron.
Die Forschungsgruppe zeigt in einer Reihe weiterer Studien die Bedeutung der neuronalen Variabilität für erfolgreiches menschliches Verhalten. Ob es dabei um das Verarbeiten von Gesichtern geht, um das Merken von Objekten oder das Lösen von komplexen Aufgaben: Die Fähigkeit, neuronale Variabilität von einem Moment zum anderen zu regulieren, scheint für optimale kognitive Leistung erforderlich zu sein. „Neurowissenschaftler*innen haben dieses ‚Rauschen‘ im Gehirn seit Jahrzehnten gesehen, aber nicht verstanden, was es bedeutet. Eine wachsende Zahl von Arbeiten unserer und anderer Forschungsgruppen unterstreicht, dass neuronale Variabilität in der Tat als unverzichtbares Signal für erfolgreiches Verhalten dienen kann. Es ist ein Fortschritt, dass durch die zunehmende Verfügbarkeit von neuen Methoden zur Messung neuronaler Variabilität eine solche Hypothese nun überprüft werden kann", sagt Douglas Garrett, Senior Research Scientist und Leiter der Forschungsgruppe. In der nächsten Phase ihrer Forschung plant die Gruppe zu untersuchen, ob die neuronale Variabilität und das Verhalten durch Hirnstimulation, Verhaltenstraining oder auch Medikamente optimiert werden kann.
Originalpublikationen
Waschke, L., Kloosterman, N., Obleser, J., & Garrett, D. D. (2021). Behavior needs neural variability. Neuron. Advance online publication. https://doi.org/10.1016/j.neuron.2021.01.023
Kloosterman, N. A., Kosciessa, J. Q., Lindenberger, U., Fahrenfort, J. J., & Garrett, D. D. (2020). Boosts in brain signal variability track liberal shifts in decision bias. eLife, 9, Article e54201. https://doi.org/10.7554/eLife.54201
Garrett, D. D., Epp, S., Kleemeyer, M., Lindenberger, U., & Polk, T. A. (2020). Higher performers upregulate brain signal variability in response to more feature-rich visual input. NeuroImage, 217, Article 116836. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2020.116836
Kosciessa, J. Q., Lindenberger, U., & Garrett, D. D. (in press). Thalamocortical excitability adjustments guide human perception under uncertainty. Nature Communications.