Ordnung durch Unordnung: Komplexität als zentraler Baustein des menschlichen Hirns
Neues Organisationsprinzip des Gehirns – das Komplexom – entdeckt
Wissenschaftler*innen der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben ein neues Organisationsprinzip des Gehirns – das Komplexom – entdeckt. Sie stellen ihre Erkenntnisse in der Fachzeitschrift Science Advances vor.
Das menschliche Gehirn arbeitet in groß angelegten funktionellen Netzwerken. Wie die Aktivitätsmuster einzelner Hirnregionen mit dem Netzwerkaufbau des Gehirns als Ganzes zusammenhängen, ist noch nicht vollständig verstanden. Hier sind Wissenschaftler*innen der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nun einen wichtigen Schritt weitergekommen. Um den zugrundeliegenden Organisationsprinzipien des Gehirns auf die Spur zu kommen, haben sie die spontane Hirnaktivität von 343 gesunden Erwachsenen aus dem Human Connectome Project über zwei Zeitpunkte hinweg untersucht. Deren Hirnsignale wurden mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (MRT) aufgezeichnet. Mittels einer speziellen Komplexitätsanalyse, die die Wiederholung von Mustern der Hirnaktivität erfasst, konnten sie Muster in der Hirnaktivität erkennen, die durch herkömmliche Methoden nicht erfasst werden.
Die Autoren zeigten, dass das Gehirn in unterschiedlichen Komplexitätszuständen arbeitet, die wichtige Netzwerkeigenschaften erklären. „Im Speziellen konnten wir zeigen, dass spontane Hirnaktivität zumeist ein hohes Maß an Unregelmäßigkeit aufweist, was sich als hohe Komplexität widerspiegelt. Dieser ´Normalzustand´ wird jedoch immer wieder durch spontane Episoden niedriger Komplexität unterbrochen (´complexity drops´), in denen die Hirnaktivität für einen kurzen Moment sehr regelmäßig wird“, schreibt Stephan Krohn, Wissenschaftler an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, über die neuen Erkenntnisse (siehe Neue Erkenntnisse zu Hirnnetzwerken: Charité – Universitätsmedizin Berlin (charite.de)). Dieser Komplexitätsabfall ist weitgehend darauf zurückzuführen, wie die Hirnregionen von Moment zu Moment miteinander interagieren. Überraschend sei, dass sich diese Komplexitätsmuster in jedem der knapp 700 untersuchten MRTs nachweisen ließ. Dies deute auf ein sehr grundlegendes Organisationsprinzip hin, wie die Aktivität innerhalb einer Hirnregion die Netzwerkkommunikation des Gehirns steuert, das als menschliches "Komplexom" zusammengefasst werden kann. Das Alter hat auch einen starken Einfluss auf diese Aktivitätsmuster. Die Wissenschaftler*innen konnten feststellen, dass eine geringere Komplexität mit einem niedrigeren Alter und besseren kognitiven und motorischen Leistungen verbunden ist. Sie werten dies als Zeichen dafür, dass eine höhere Kapazität zur Komplexitätsreduktion einen verhaltensrelevanten und vorteilhaften Aspekt der Gehirnfunktion darstellen kann.
Zentrale Ideen der vorliegenden Studie basieren auf den Vorarbeiten der Wissenschaftler des Max Planck UCL Centres zur Komplexität neuronaler Aktivität (z.B. Waschke et al., 2021, Neuron). „Das Verhalten von Menschen und Tieren ist äußerst formbar und passt sich erfolgreich an interne und externe Anforderungen an. Ein solcher Verhaltenserfolg steht in auffälligem Kontrast zu der offensichtlichen Instabilität der neuronalen Aktivität bzw. deren Variabilität“, erklärt Ko-Autor der Studie Leonhard Waschke von der Emmy Noether-Gruppe Neuronale Dynamik über die Lebensspanne, die am Max Planck UCL Centre for Psychiatry and Ageing Research angesiedelt ist. „Wir glauben, dass nur durch die Einbeziehung dieser Variabilität die neuronale Grundlage des Verhaltens umfassend verstanden werden kann“, so der Wissenschaftler weiter.