Ehre und Schande
Soziale Gefühle und politische Praktiken im 20. Jahrhundert
Ute Frevert
Ehre und Schande sind soziale Emotionen par excellence. Sie strukturieren nicht nur interpersonale Beziehungen, sondern spielen auch eine bedeutende Rolle in der Innen- und Außenpolitik. Die europäischen Gesellschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigten sich höchst sensibel, wenn es um persönliche und nationale Ehre ging. Der Staat schützte die Ehre seiner Bürger; zugleich inszenierte er Konflikte mit anderen Staaten als Ehrkonflikte. Militärische Niederlagen wurden dementsprechend als Schande und Ehrverlust verbucht und gingen mit Beschämungspraktiken einher, die die enge Verbindung von sozialer, nationaler und Geschlechter-Ehre sinnfällig demonstrierten.
Das Projekt rekonstruiert die historischen Traditionslinien männlicher und weiblicher Ehre und Schande in ihrer historischen und gesellschaftlichen Dimension, untersucht ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten, ihre Dynamik und Konjunkturen, ihre verbale wie nonverbale Sprache. Es erforscht den Wandel des Ehrbegriffes im langen 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf er diskreditiert wurde und eine rasante Delegitimierung erfuhr, an dessen Ende jedoch zugleich an anderer Stelle ein neuer reüssierte, der in veränderter Weise auch Verbrechen im Namen jener Ehre – bis hin zum "Ehrenmord" - den Weg ebnet. Auch das Gegenstück der Ehre, die Schande, gilt vielen seit einigen Jahren als ein im Aussterben begriffenes Gefühl. Dabei gehörten Scham und Beschämung zu den machtvollsten Motiven und Mitteln im sozialen, politischen, aber auch rechtlichen Miteinander von Menschen wie Staaten und erleben stetig Comebacks, wie etwa die jüngste US-amerikanische Justizpraxis mit der Verhängung von Ehrenstrafen ("public shaming/shame sanctions") zeigt.