Vom Allgemeinen zum Besonderen: Das Reifungsmuster des Hippokampus steuert die menschliche Gedächtnisentwicklung

Positionspapier zeigt neue Wege in der Gedächtnisforschung auf

Neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Untersuchungen werfen ein neues Licht auf die Gedächtnisentwicklung in Kindheit und Jugend. Wichtiger als bislang angenommen ist die Rolle des Hippokampus. In der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences stellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Temple University die neuen Erkenntnisse vor.

Es ist ein Paradox der menschlichen Entwicklung, mit dem Eltern gut vertraut sind: Kleinkinder erwerben scheinbar mühelos Wissen über die Welt, in der sie leben, doch zugleich fällt es ihnen schwer, sich an einzelne Begebenheiten zu erinnern, durch die ihr Weltwissen entsteht. Und diese Tendenz, sich das Verallgemeinerbare besser merken zu können als das Besondere, setzt sich abgeschwächt bis ins Vor- und Grundschulalter fort. Woran das liegt, war bislang völlig unklar.

Nun jedoch zeigen neuere Untersuchungen, dass Unterschiede in der Ausreifung verschiedener Areale des Hippokampus das Entwicklungsparadox erklären können. Dies berichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin sowie der Temple University in Philadelphia in einer gemeinsamen Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences.

Der Hippokampus befindet sich am inneren Rand der Großhirnrinde und spielt bei Lern- und Gedächtnisvorgängen eine wichtige Rolle. „Durch die unterschiedlich schnelle Ausreifung der verschiedenen Areale des Hippokampus gibt das kindliche Gehirn zunächst jenen Prozessen Vorrang, die aus den Details das Verallgemeinerbare herausfiltern. Und dadurch gelingt es kleinen Kindern, sich in der Welt zurechtzufinden“, sagt Erstautor Attila Keresztes vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Zur Fähigkeit Verallgemeinerungen machen zu können, gehören der Aufbau stabiler Vorstellungen wiederkehrender Ereignisse ebenso wie der Erwerb sprachlichen Wissens. Auf dieser Grundlage sind Kinder dann zunehmend besser in der Lage, das Besondere vom Allgemeinen zu trennen und sich auch an Details zu erinnern“, ergänzt Keresztes.

Die Prozesse, die diesen Entwicklungsverlauf ermöglichen, werden als Musterergänzung (pattern completion) und Mustertrennung (pattern separation) bezeichnet. Die Musterergänzung extrahiert das Verallgemeinerbare über verschiedene Erlebnisse hinweg. Die Mustertrennung hingegen identifiziert die Unterschiede zwischen verschiedenen Erlebnissen und erleichtert dadurch die Erinnerung an Details. Mittels hochauflösender Bildgebung gewonnene Hirndaten des Berliner Teams zeigen, dass die für Musterergänzung und Mustertrennung zuständigen Areale des Hippokampus unterschiedlich schnell ausreifen. Genau diese koordinierte Reifung spezialisierter Areale des Hippokampus bewirkt nach Ansicht der Wissenschaftler den beobachteten Entwicklungstrend vom Allgemeinen zum Besonderen.

„Letztes Jahr wurde uns klar, dass wir in unabhängigen Untersuchungen zu denselben Schlüssen gelangt sind. Deswegen haben wir uns entschlossen, gemeinsam mit den Berliner Kollegen ein Positionspapier zu schreiben“, sagt Nora Newcombe, Professorin an der Temple University in Philadelphia. Der gemeinsam entwickelte Ansatz bedeutet ihrer Ansicht nach eine grundlegende Neuorientierung bei der Erforschung der menschlichen Gedächtnisentwicklung. Bislang sei man davon ausgegangen, dass der Hippokampus mit etwa sechs Jahren weitgehend ausgereift und die weitere Entwicklung des Gedächntisses allein von der Ausreifung des Neocortex abhängig sei, so Nora Newcombe. Nun wisse man, dass der Reifungsprozess des Hippokampus bis ins Jugendalter andauere. „Die Lehrbücher müssen umgeschrieben werden“, so Newcombe.

Die Einzelheiten der Ausreifung des Hippokampus und deren Zusammenhang mit der Reifung des Neocortex soll in weiteren Experimenten und Verlaufsstudien genauer untersucht werden. Dabei sollen neben Verhaltensmessungen auch bildgebende Verfahren des Gehirns sowie Computermodelle vom Zusammenspiel von Musterergänzung und Mustertrennung zum Einsatz kommen.

Originalstudien
Keresztes, A., Ngo, C. T., Lindenberger, U., Werkle-Bergner, M., & Newcombe, N. S. (2018). Hippocampal maturation drives memory from generalization to specificity. Trends in Cognitive Sciences, 22, 676–686. doi:10.1016/j.tics.2018.05.004

Keresztes, A., Bender, A. R., Bodammer, N. C., Lindenberger, U., Shing, Y. L., & Werkle-Bergner, M. (2017). Hippocampal maturity promotes memory distinctiveness in childhood and adolescence. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 114, 9212–9217. doi:10.1073/pnas.1710654114

Ngo, C. T., Newcombe, N. S., & Olson, I. R. (2018). The ontogeny of relational memory and pattern separation. Developmental Science, 21:e12556. doi:10.1111/desc.12556

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