Gefühle im deutschen Strafrecht
(1794-1945)
Ute Frevert
Das Strafrecht - seine juristischen Grundlagen und seine Umsetzung in Rechtspraxis – erschließt der Emotionsgeschichte ein ergiebiges und spannendes Untersuchungsfeld. Zwei Themen bieten sich für eine intensivere Betrachtung besonders an: die sogenannten Verbrechen aus Leidenschaft und Ehrverbrechen (inklusive Beleidigungsvergehen). Beide wurden als strafbare Handlungen definiert und verfolgt, die durch Emotionen motiviert waren: durch Affekte, Leidenschaften, Gefühle, (Gemüts-)Erregungen.
Generationen von Rechtsgelehrten, Anwälten, Richtern und Geschworenen haben Überlegungen dazu angestellt,
- wie diese Emotionen ausgelöst werden,
- wie sie auf die betroffene Person einwirken,
- in welchem Maße sie ihren freien Willen, ihre Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit mindern,
- ob man von jemandem erwarten kann, dass er oder sie gegen solche Gefühle angeht und zu einem "vernünftigen" Gemütszustand zurückfindet,- welche Emotionen welchen Einfluss auf was nehmen und wie sie moralisch zu bewerten sind,
- wer einem Ansturm der Gefühle leichter erliegen oder widerstehen könne, usw.
Rechtstraditionen und juristische Doktrinen prägten diese Überlegungen, aber auch die Standpunkte von Psychologen und Medizinern spielten hinein, deren Fachmeinungen ihrerseits eng an gängige Ansichten der Zeitgenossen gebunden waren. Die Antworten auf diese Fragen fanden nicht nur Eingang in die rechtswissenschaftliche Theorie, sondern beeinflussten auch Verteidigungsstrategien und Rechtsprechung sowie die Wahrnehmung eines Falles in der Öffentlichkeit.
Das Forschungsprojekt analysiert, welche Bedeutung Emotionen in den Augen derjenigen zukamen, die in Deutschland zwischen 1794 und 1945 Gesetze entwarfen und zur Anwendung brachten: Wie waren sie in Einklang zu bringen mit den juristisch bedeutsamen Kategorien des freien Willens, individueller Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit? Vor diesem Hintergrund bieten Rechtsdebatten faszinierende Einblicke in zeitgenössische Diskurse über Vernunft und Affekt, Moral und Unmoral, Heiß- und Kaltblütigkeit, gerechte und ungerechte, genehme und verachtenswerte Emotionen. Sie trugen nicht zuletzt zur Entstehung, aber auch zum Wandel von sozialen und geschlechtsspezifischen Klischees bei. Als etwa das Bild vom Mann entstand, der im Gegensatz zur vorsätzlich handelnden Frau stärker seinen Leidenschaften ausgeliefert sei, bedeutete dies den Abschied von oder zumindest beträchtliche Korrekturen an dem Geschlechterdiskurs des 19. Jahrhunderts.
Als Quellen stehen Gesetzesentwürfe, Kodizes, Rechtskommentare und zahlreiche gelehrte Abhandlungen sowie Gerichtsprotokolle zur Verfügung. Insbesondere Verhandlungen über die sogenannten Verbrechen aus Leidenschaft und Ehrenverbrechen, die Gefühle ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten, versprechen interessante Aufschlüsse darüber, wie Leidenschaften vor Gericht zu Werke gingen.