Wortflüssigkeit im Alter ist Indiz für höhere Lebenserwartung
Verlaufsdaten der Berliner Altersstudie belegen die Vorhersagekraft der Wortflüssigkeit
Wer es im Alter spielend schafft, rasch Tiernamen aufzuzählen oder unterschiedliche Wörter mit demselben Anfangsbuchstaben zu finden, lebt im Durchschnitt länger. Eine scheinbar einfache Aufgabenstellung erweist sich in einer aktuellen Auswertung der Berliner Altersstudie als ein besonders vorhersagekräftiges Maß der Lebenserwartung im Alter.

Die Untersuchung basiert auf Verlaufsdaten der Berliner Altersstudie. Unter Leitung von Paolo Ghisletta (Universität Genf) analysierte ein internationales Forschungsteam –darunter auch Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung– die kognitive Entwicklung von 258 Frauen und 258 Männern, die zu Beginn der Studie zwischen 70 und 103 Jahre alt waren. Die Stichprobe wurde nach dem Zufallsprinzip gezogen und kann deswegen als annähernd repräsentativ gelten. Die kognitiven Leistungen der Teilnehmenden wurden in regelmäßigen Abständen erfasst. An der letzten Erhebung, die 18 Jahre nach Studienbeginn stattfand, nahmen noch 22 Personen teil. Zum Zeitpunkt der Datensauswertung waren alle Studienteilnehmenden verstorben. Das Versterbedatum war von allen Verstorbenen bekannt, nicht jedoch die Todesursachen.
516 Teilnehmende, neun Tests, davon zwei zur Wortflüssigkeit
Im Zentrum der Studie standen neun kognitive Aufgaben. Neben zwei Tests der Merkfähigkeit, zwei des verbalen Wissens und drei der Wahrnehmungsgeschwindigkeit waren auch zwei Tests zur Wortflüssigkeit dabei. Bei einer der beiden Aufgaben zur Wortflüssigkeit wurden die Studienteilnehmenden gebeten, innerhalb von 90 Sekunden möglichst viele verschiedene Tiere zu nennen. Bei der anderen galt es, innerhalb von 90 Sekunden möglichst viele verschiedene Wörter zu nennen, die mit dem Buchstaben „S“ beginnen.
Die beiden Aufgaben zur Wortflüssigkeit sagten die Anzahl verbleibender Lebensjahre wesentlich besser voraus als die anderen sieben Tests. „Personen, deren Wortflüssigkeitsleistung sich im Bereich der oberen 25 Prozent der Stichprobe befand, lebten im Schnitt fast neun Jahre länger als Personen, deren Wortflüssigkeitsleistung sich im Bereich der unteren 25 Prozent befand“, erklärt Ghisletta. Konkret reduzierte sich das Sterberisiko mit jedem zusätzlich genannten Tier um fünf Prozent und mit jedem zusätzlichen Wort mit dem Anfangsbuchstaben “S” um drei Prozent. Auch Alter, Geschlecht und Bildungsniveau hängen mit der Lebenserwartung zusammen. Die Wortflüssigkeit zeigte jedoch den stärksten Zusammenhang auch dann, wenn all diese Variablen gleichzeitig betrachtet wurden.
Wie erklärt sich die Vorhersagekraft der Wortflüssigkeit?
Wortflüssigkeitsaufgaben nehmen mehrere kognitive Fähigkeiten in Anspruch. An erster Stelle steht der zielgerichtete Zugriff auf das Langzeitgedächtnis, hier also auf Tiere, die man kennt, oder auf Wörter, die mit dem Buchstaben „S“ beginnen. Zweitens muss dieser Zugriff schnell erfolgen, da man in 90 Sekunden möglichst viele Wörter nennen soll. Und drittens muss man sich im Verlauf der Aufgabe daran erinnern, welche Wörter man bereits genannt hat, da es darum geht, möglichst viele verschiedene Wörter zu nennen.
„Wortflüssigkeit ist also eine komplex zusammengesetzte kognitive Fähigkeit, die in besonderem Maße das Zusammenspiel verschiedener Hirnfunktionen erfordert“, erklärt Ulman Lindenberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Wenn dieses Zusammenspiel alterungsbedingt stark nachlässt, dann geht dies mit einer Verringerung der Lebenserwartung einher.“ Im Extremfall einer alterungsbedingten Demenz kann dies dazu führen, dass nur noch die beiden Worte „Hund, Katze“ wiederholt werden, so Lindenberger.
Besonders präzises statistisches Verfahren
Eine Stärke der Studie liegt im verwendeten statistischen Verfahren. Die Untersuchung der Fragestellung erfordert zwei Teilmodelle. Das erste Teilmodell bezieht sich auf die Schätzung individueller Unterschiede in den Leistungsniveaus und Leistungsveränderungen, das zweite Teilmodell auf die Schätzung individueller Unterschiede in der verbleibenden Lebenserwartung. Bislang wurden diese Teilmodelle zumeist in einem ersten Schritt getrennt geschätzt und dann in einem zweiten Schritt zusammengefügt.
Im Gegensatz hierzu nutzen das Autorenteam ein einheitliches, in der Fachliteratur als „joint multivariate longitudinal and survival model“ bezeichnetes Schätzverfahren. Dabei erfolgt die Schätzung der Leistungsniveaus und Leistungsveränderungen sowie die Voraussage der Überlebenswahrscheinlichkeit gleichzeitig in einem Schritt. Die Autoren weisen mit ihrer Auswertung nach, dass dieses einheitliche Verfahren präziser und erwartungstreuer ist als das zweistufige Verfahren.
Wahrscheinlichkeitsaussagen sind mit Vorsicht zu genießen
Abschließend betonen die Autoren, dass statistische Aussagen über den Zusammenhang zwischen Testleistung und Lebenserwartung sich nicht direkt auf einzelne Personen übertragen lassen. „Die Zusammenhänge drücken lediglich eine Wahrscheinlichkeit aus. Sichere Aussagen über die tatsächlich verbleibende Lebenszeit einzelner Personen lassen sich aus den Testergebnissen nicht ableiten“, so Ghisletta. Koautor Lindenberger betrachtet das Ergebnis als einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Arbeiten. „Die Erforschung des starken Zusammenhangs zwischen Wortflüssigkeit und Lebenserwartung wird dazu beitragen, die Ursachen für den Erhalt und den Abbau kognitiver Leistungen im Alter besser zu verstehen.“
Von der Idee, Tiere nennen zu trainieren, um länger zu leben, hält Lindenberger eher wenig. „Dann würde der Test nicht mehr dasselbe messen, was er zuvor gemessen hat, und an der Lebenserwartung dürfte sich nicht viel ändern.“ Es sei aber gut belegt, dass ein intellektuell anregendes, sozial engagiertes und körperlich aktives Leben mit dem Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit und einer höheren Lebenserwartung verknüpft sind. Ein Spaziergang mit Freunden im Zoo sei also durchaus zu empfehlen.
In Kürze
Lebenserwartung im Alter: In der Forschung ist der Zusammenhang von Langlebigkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit bekannt. Zahlreiche Tests kommen zur Anwendung.
Eine neue Studie zeigt: Die Wortflüssigkeit älterer Menschen sagt die Lebenserwartung besser voraus als andere Maße der kognitiven Leistungsfähigkeit.
516 Teilnehmende: Die Auswertung basiert auf Daten der Berliner Altersstudie mit Probanden, die mindestens 70 Jahre alt waren.