Wissenschaftler gründen Aktion „Unstatistik des Monats“
Erstes Beispiel betrifft das Ruhrgebiet
Mit der „Unstatistik des Monats“ werden der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung), der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer künftig nach Ende eines Monats sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen hinterfragen. Den Anfang macht der im Dezember präsentierte „Armutsbericht 2011“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Er impliziert, das Ruhrgebiet sei das neue Armenhaus der Republik, misst statt Armut aber lediglich die Einkommensungleichheit und legt darüber hinaus den falschen Vergleichsmaßstab an.
Der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Bochumer Ökonom Thomas Bauer und der Dortmunder Statistiker Walter Krämer haben heute die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben gerufen. Sie werden ab jetzt nach Ende eines Monats sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen hinterfragen. Die Aktion will so dazu beitragen, mit Daten und Fakten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu interpretieren und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoll zu beschreiben.
Der erste Stein des Anstoßes der neu gegründeten Aktion ist der im Dezember vorgestellte „Armutsbericht 2011“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Daraufhin wurde in vielen deutschen Medien das Ruhrgebiet als neues Armenhaus der Republik identifiziert. So wäre z.B. die Armutsgefährdungsquote in Dortmund zwischen 2005 und 2010 von 18,6 auf 23 Prozent angestiegen, verglichen mit 14,5 Prozent in Gesamtdeutschland. Aber auch landesweit ginge der wirtschaftliche Aufschwung an den Armen vorbei.
Beide Aussagen sind irreführend. Als armutsgefährdet gilt hier, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommes zur Verfügung hat. Für die Bestimmung der Armut ist die so definierte Armutsgefährdungsquote jedoch irrelevant, da sie nicht die Armut, sondern lediglich die Ungleichheit misst. Auch ging der wirtschaftliche Aufschwung an den Armen nicht vorbei. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts ist das monatliche Medianeinkommen eines Haushalts mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren zwischen 2005 und 2010 von 2.575 auf 2.892 Euro gestiegen. Entsprechend ist das Einkommen, ab dem ein Haushalt als armutsgefährdet bezeichnet wird, in diesem Zeitraum von 1.545 auf 1.735 Euro gestiegen. Die Armutsgefährdungsquote verringerte sich jedoch im gleichen Zeitraum leicht von 14,7 Prozent auf 14,5 Prozent, d.h. alle Haushalte haben im gleichen Maße vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert, die „Armen“ sogar leicht überproportional.
Entscheidend ist der Vergleichsmaßstab. Für die Armut im Ruhrgebiet verwendet der Paritätische Wohlfahrtsverband das (leicht gestiegene) Medianeinkommen der Bundesrepublik Deutschland als Berechnungsgrundlage. Wird dagegen das Medianeinkommen der jeweiligen Großstadt als Berechnungsgröße verwendet, hatte Dortmund in 2010 eine geringere Armutsgefährdungsquote als Düsseldorf, Hannover, München oder Stuttgart. Duisburg hatte mit 13,9 Prozent sogar die geringste Armutsgefährdungsquote aller ausgewiesenen Großstädte überhaupt.
Ungleichheit ist aber nicht dasselbe wie Armut. In Dortmund und Duisburg gibt es nicht mehr Ungleichheit unter den Menschen in der Stadt, sondern nur relativ zum Median für Deutschland.