Unstatistik des Monats: Gewalt gegen Frauen und Zahlen
Die Unstatistik des Monats März ist die Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zur Gewalt gegen Frauen in den 28 EU-Mitgliedstaaten. Demnach haben etwa sieben Prozent der interviewten Frauen in den zwölf Monaten vor der Befragung körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Jede dritte Frau hat seit dem 15. Lebensjahr einen körperlichen und/oder sexuellen Übergriff erlebt. Über die Ergebnisse der Studie berichteten unter anderem auch „Spiegel online“ am 4. März unter der Überschrift „EU-Studie: Jede dritte Frau in Europa ist Opfer von Gewalt“ und die FAZ am 5. März unter der Überschrift „Es wird mehr geschlagen“.
Unabhängig davon, ob diese Zahlen zutreffen oder nicht, ist ihre internationale Variation bedenklich und irreführend. So führen etwa Dänemark, Finnland, und Schweden mit 52 Prozent, 47 Prozent und 46 Prozent weiblicher Gewaltopfer die Rangliste an. Am unteren Ende finden sich vor allem südliche Länder wie Zypern, Malta oder Portugal.
Liest man in den Begleitmaterialien nach, so erschließen sich mehrere mögliche Ursachen für diese großen Unterschiede. Zum einen fällt auf, dass die in Dänemark, Finnland und Schweden befragten Frauen im Unterschied zu allen anderen Ländern zuerst telefonisch kontaktiert wurden. Am Telefon lässt sich einfacher über Gewalterfahrungen sprechen als in einem persönlichen Gespräch mit einem Interviewer.
Zum zweiten zeigt sich eine negative (und signifikante) Korrelation zwischen dem Anteil der Frauen, die in den jeweiligen Ländern bereit waren, den Fragenbogen zu beantworten, und der Gewalt in diesen Ländern: Je höher die Antwortbereitschaft der Frauen, desto geringer die gemessene Gewalt. Einmal unterstellt, alle Gewaltopfer und ein mehr oder weniger großer Prozentsatz der übrigen Frauen nahm an der Befragung teil, ist der wahre Anteil der Gewaltopfer in Dänemark, Finnland und Schweden vielleicht sogar am kleinsten.
Aber auch andere Verzerrungsmechanismen sind denkbar. Auf den ein oder anderen weist die Studie der FRA auch hin. So ist der Punkt, ab dem sich eine Frau sexuell belästigt fühlt, in „emanzipierten Ländern“ möglicherweise schneller erreicht als in Ländern mit eher konservativer Rollenverteilung. Dies kann sich auf die Ergebnisse auswirken, da in der Erhebung beispielsweise auch das Erzählen schlüpfriger Witze als sexuelle Gewalt gilt. Für einen realistischen EU-weiten Vergleich sind diese Zahlen daher eher wenig geeignet.
Zur Aktion „Unstatistik des Monats“
Gemeinsam mit dem RWI-Vizepräsidenten Thomas Bauer (Rheinisch-Westfälisches-Institut für Wirtschaftsforschung) und dem Dortmunder Statistiker Walter Krämer (TU Dortmund) hat der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, im Jahr 2012 die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben gerufen. Mit dieser Maßnahme hinterfragen die Wissenschaftler jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Die Aktion will so dazu beitragen, mit statistischen Daten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu deuten und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoll und allgemein verständlich zu beschreiben.