Umdenken bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten durch gezielte Strategien für den Arbeitsplatz
Datengestützte Simulationen zeigen, wie Pandemien leichter und mit gleichzeitig geringerem wirtschaftlichem Schaden eingedämmt werden können
Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung und insbesondere Homeoffice-Regelungen können erwiesenermaßen helfen, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Diese Maßnahmen hatten jedoch auch zahlreiche unerwünschte Folgen, darunter einen dramatischen Rückgang der wirtschaftlichen Produktivität. Gibt es alternative Maßnahmen, mit denen die Pandemie eingedämmt und gleichzeitig die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen minimiert werden können? Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung untersuchten diese Frage anhand von Daten und Methoden, die üblicherweise nicht zur Pandemiebekämpfung herangezogen werden. Ihre Ergebnisse wurden im Fachjournal Scientific Reports veröffentlicht.
Während der gesamten COVID-19-Pandemie zählte die räumliche Distanzierung, einschließlich der Kontaktreduzierung am Arbeitsplatz und soweit möglich die Verlagerung auf das mobile Arbeiten zu den wirksamsten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Diese Maßnahmen belasten nicht nur Arbeitnehmende, gefährden Arbeitsplätze und die Wirtschaft, sondern werden wahrscheinlich auch langfristige Verschiebungen in den Arbeitsmodellen bewirken. Die wirtschaftlichen Folgen sind beträchtlich, einschließlich des Verlusts an Arbeitsstunden und eines Rückgangs des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP), dessen ganzes Ausmaß erst nach Ende der Pandemie ermessen werden kann.
Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung haben die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen zur Pandemieeindämmung anhand datenbasierter Simulationen untersucht. Indem sie sich auf berufsbezogene Maßnahmen fokussierten und detaillierte Daten über die Verteilung der Arbeitskräfte über Berufe, Löhne und ihrer physischen Nähe zum Arbeitsplatz verwendeten, konnten sie die wirtschaftlichen und epidemiologischen Auswirkungen bestimmter Eindämmungsstrategien modellieren.
„Wir haben simuliert, wie sich Krankheiten wie COVID-19 über die Gruppe von Erwerbstätigen ausbreiten und nicht nur über die gesamte Bevölkerung hinweg. Das ist eine Vereinfachung, die sonst oft gemacht wird, erklärt Co-Autor der Studie Alex Rutherford. Er ist Senior Research Scientist und Principal Investigator am Forschungsbereich Mensch und Maschine des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. „Wir konnten feststellen, dass sich die Art der Arbeit stark auf den Ausgang der Pandemie auswirkt.“
Die Forschungsgruppe nutzte öffentlich zugängliche Daten über Arbeitsplätze, um jedem Beruf einen „Proximitätswert“ zuzuordnen. Diese Zahl gibt an, mit wie vielen Personen ein Arbeitnehmender wahrscheinlich in Kontakt kommen wird. Daraus erstellten sie ein „Kontaktnetzwerk“, anhand dessen ersichtlich wird, wie sich eine Infektionskrankheit wie COVID-19 von Mensch zu Mensch ausbreitet.
Die Daten stammen aus der Stadt New York, die als modellhaftes, urbanes Umfeld betrachtet wird, und umfassen sowohl berufliche Angaben als auch Daten aus öffentlichen Datenbanken, wie dem „Occupational Information Network“ (O*NET), das Berufsdaten sowie statistische und wirtschaftliche Informationen aus den USA erfasst. Solche Datenkategorien spielen bei der Konzeption von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nur selten eine Rolle. Anhand von Daten zu Gehältern, der Anzahl der Personen einer bestimmten Berufsgruppe in New York und deren Möglichkeit von zu Hause aus zu arbeiten, ermittelte das Team die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen einzelner Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Die sozialen Auswirkungen messen sich an der Anzahl der Menschen, die infiziert wurden. Die wirtschaftlichen Kosten ergeben sich daraus, wie viele Menschen beurlaubt werden und ihr Gehalt nicht beziehen können, weil sie nicht von zu Hause arbeiten können.
Die Forschenden verglichen, wie effektiv verschiedene Maßnahmen zur Kontaktreduzierung waren, um die Auswirkungen der Epidemie zu verringern – sozial wie wirtschaftlich. Diese reichten von keiner Intervention bis hin zu sehr komplexen Maßnahmen auf Basis der Struktur des Kontaktnetzwerks der jeweiligen Berufsgruppe.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Struktur des Kontaktnetzwerks die Krankheitsdynamik auf nicht unerhebliche Weise stark beeinflusst“, sagt Demetris Avraam, Hauptautor der Studie und Postdoktorand am Forschungsbereich Mensch und Maschine des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Beispielsweise kann die Beurlaubung eines kleinen Teils der Arbeitnehmenden dazu führen, dass das Kontaktnetzwerk so beschnitten wird, dass die Infektionszahlen auf niedrigem Niveau über einen längeren Zeitraum stagnieren. Dies kann perspektivisch kostspieliger sein, da die Pandemie länger andauert. Intuitive Strategien wie Beurlaubung von Arbeitnehmenden auf der Grundlage ihrer Notwendigkeit, nach Lohn oder nach dem Zufallsprinzip schnitten auf dieser Grundlage schlecht ab. Im Gegensatz dazu sind netzwerkbasierte Metriken wie Grad und Zentralität in der Lage, den Höhepunkt der Infektion zu reduzieren (Abflachung der Kurve) und auch die Epidemie zu verkürzen.
Die Forschenden fanden heraus, dass die grundlegende Strategie der Entfernung von Arbeitnehmenden entsprechend der Anzahl ihrer engen persönlichen Kontakte ungefähr die gleiche Leistung erbringt wie komplexere Metriken, die auf der vollständigen Netzwerkstruktur oder anderen beruflichen Merkmalen basieren.
„In der Praxis ließe sich die Anzahl der Kontakte einfach mit einer Smartphone-App abschätzen, die die Bluetooth-Nähe zu anderen Endgeräten schätzt, ohne die IDs zurückzuverfolgen,“ sagt Manuel Cebrian, Mitautor der Studie und Leiter der Gruppe Digitale Mobilisierung am Forschungsbereich Mensch und Maschine des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Er hat unter anderem erforscht, wie Smartphone-Daten und Tracing-Apps zur Pandemiebekämpfung eingesetzt werden können.
Die COVID-19-Pandemie hat viele tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen verursacht, die auch nach deren Abklingen wahrscheinlich nicht rückgängig gemacht werden können. Dazu gehören enorme Veränderungen in der Nachfrage in allen Sektoren, die großflächige Einführung von Fernarbeit und das Infragestellen tief verwurzelter Verständnisse von Arbeitsplätzen. Dies hat auch Auswirkungen auf die zukünftige Automatisierung von Arbeitsplätzen. Automatisierungsprozesse werden zunehmend in Berufen eingesetzt, die mit einer großen Anzahl an Kontakten einhergehen. Zum Beispiel sind Online-Konsultationen mit Ärzt*innen oder Online-Trainings in Sport und Bildung auf dem Vormarsch.
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