Selbst erfahren statt Beschreibungen lesen: Wie wir zu besseren intuitiven Statistiker*innen werden
Wissenschaftshistorische und vergleichende Analysen zu statistischer Intuition
Warum scheinen Babys und Menschenaffen besser im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten zu sein als Erwachsene und was bedeutet das für die statistische Bildung? Diese Fragen untersuchten Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Universität der Balearen in zwei Studien, die in den Fachzeitschriften Cognition und Psychological Bulletin veröffentlicht wurden.
Babys können bereits im frühen Alter intuitiv richtige statistische Urteile fällen und auch Menschenaffen beweisen erstaunliche Fähigkeiten im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Zu diesen Ergebnissen kamen jüngste Studien aus der frühkindlichen Kognitionsforschung und der Verhaltensbiologie. Im Gegensatz dazu gelten Erwachsene häufig als schlechte intuitive Statistiker*innen. Doch wie kommt es zu diesen widersprüchlichen Ergebnissen rund um das intuitive statistische Denken? Verlieren wir mit zunehmendem Alter tatsächlich die Fähigkeit, wahrscheinlichkeitsbasierte intuitive Schlussfolgerungen zu ziehen? Oder hängen die Ergebnisse mit der Art und Weise zusammen, wie uns Informationen präsentiert werden? Zwei neue Studien geben Aufschluss.
In einer ersten Studie analysierten Forscher*innen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der Universität der Balearen die Entwicklung der Forschung zum statistischen Denken aus historischer Perspektive: Galten Erwachsene in den 1960er Jahren noch als gute intuitive Statistiker*innen, so wurde ihr Ruf ab den 1970ern schlechter. Forschungsarbeiten über sogenannte „Heuristiken und Biases“ stellten seitdem das menschliche Urteilsvermögen als systematisch fehleranfällig dar. Es basiere auf Heuristiken, also mentalen Abkürzungen oder vereinfachten Regeln, die wiederum systematisch verzerrte, also mit einem Bias belastete, Urteile hervorrufen würden. Es sei nicht vereinbar mit Schlüssen, die auf der Grundlage von Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie gefällt würden.
Bis heute quasi unkommentiert blieb allerdings die fundamentale Veränderung im Versuchsaufbau von Studien dieser Art mit Erwachsenen. Seit den 1970er Jahren wurden Erwachsene vermehrt mit Textaufgaben und Beschreibungen konfrontiert, während erfahrungsbasierte Aufgabenstellungen, in denen die statistische Information erlebbar erfahren werden konnte, in Vergessenheit gerieten. Dass sich seitdem die Befunde von unzureichendem statistischen Denken bei Erwachsenen häufen, wurde bis zur vorliegenden Studie jedoch nicht in einen kausalen Zusammenhang mit diesem methodischen Paradigmenwechsel gesetzt.
Was bedeutet diese Erkenntnis für zukünftige Studien zum menschlichen Wahrscheinlichkeitsdenken? Sollte eine Rückbesinnung auf die Tradition der erlebbaren Studienaufbauten bewirkt und sollten zukünftig reine Text-Beschreibungen vermieden werden? „Wir können in der Praxis nicht nur mit erfahrungsbasierten Aufgaben, aber auch nicht nur mit Beschreibungen arbeiten. Wir sollten uns aber bewusst machen, dass die verschiedenen Methoden qualitativ unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen. Im besten Fall sollten beide Methoden in Kombination angewandt werden“, sagt Tomás Lejarraga, assoziierter Wissenschaftler im Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des „Decision Science Laboratory“ (Labor für Entscheidungswissenschaften) an der Universität der Balearen.
Um den Zusammenhang von Aufgabenformat und Ergebnissen tiefergehend zu untersuchen, verglichen Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in einer weiteren Studie eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur statistischen Intuition von ganz unterschiedlichen Studienteilnehmer*innen. In den Fokus nahmen sie dabei jene mit Babys und Menschenaffen, die, so zeigt es die jüngste Forschung, ganz erstaunliche Fähigkeiten im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Statistik an den Tag legen.
Während Messungen des statistischen Denkens von Erwachsenen häufig auf symbolischen, abstrakten Beschreibungen beruhen, erfordern Untersuchungen des statistischen Denkens von Säuglingen oder Tieren die individuelle Erfahrung statistischer Information durch Interaktion mit der Umwelt – denn sie können schließlich nicht lesen. Die statistische Intuition von Babys testet man beispielsweise indem ein*e Versuchsleiter*in mit geschlossenen Augen farbige Bälle aus einer undurchsichtigen Box zieht. Wird der gesamte Inhalt der Schachtel dann aufgedeckt, misst man die Dauer, mit der die Babys die Gesamtmenge der Bälle in der Box betrachten. Wenn die gezogene Stichprobe nicht die Farbverteilung in der Schachtel widerspiegelt, neigen Babys dazu, den Inhalt der Schachtel länger zu betrachten, als wenn die Stichprobe mit der Objektverteilung übereinstimmt. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Babys bereits ein grundlegendes Verständnis von zufälligen Stichprobenziehungen besitzen. Bei Tieren werden ähnliche Studien mit der Gabe von Futtermitteln durchgeführt.
Tatsächlich verbessern sich aber auch die Entscheidungen von Erwachsenen, wenn sie wahrscheinlichkeitsbezogene Informationen selbst erfahren können, wie beispielsweise bei wiederholten Lotterieziehungen. Untersuchungen zeigen außerdem, dass Erwachsene weniger Fehler bei der Beurteilung von statistischen Informationen machten, wenn diese beispielsweise durch ein computergestütztes Simulationsprogramm erfahrbar gemacht werden.
„Die Erkenntnis über die Erfahrungs-Beschreibungslücke im statistischen Denken ist bildungspolitisch und mit Blick auf die Weiterentwicklung pädagogischer Lehrmethoden von großer Bedeutung. Demnach könnten zum Beispiel statistische Sachverhalte und der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten in Schulen zukünftig durch Veranschaulichung und Simulation gelehrt werden, statt vorwiegend durch reine Textaufgaben“, sagt Christin Schulze, Senior Research Scientist im Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Erstautorin der Studie zum Populationsvergleich zwischen Babys, Tieren und Erwachsenen.
Die beiden Studien haben zwar unterschiedliche Ansätze, stimmen aber im Ergebnis überein: Es macht einen Unterschied, ob wir Informationen zu Wahrscheinlichkeiten erfahren oder beschrieben bekommen. „Ungemein viele unserer Urteile im Alltag müssen wir unter Unsicherheit und mit Hilfe unserer statistischen Intuition treffen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die statistischen Intuitionen von Primaten sowie von jungen und erwachsenen Menschen erstaunlich gut sein können. Der Schlüssel liegt in der Art und Weise, wie wir mit statistischen Informationen in Berührung kommen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass unsere statistischen Intuitionen nicht so irrational sind, wie sie seit Langem dargestellt werden”, sagt Ralph Hertwig, Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Originalpublikationen