Simone Kühn: „Pioniergeist ist wichtig"

Interview mit Simone Kühn über ihren neuen Forschungsbereich Umweltneurowissenschaften – mit ergänzendem Video auf YouTube 
 

Simone Kühn leitet seit Juli 2024 den neu gegründeten Forschungsbereich Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Ihr Ziel: zu verstehen, wie unsere physische Umwelt das Gehirn und die mentale Gesundheit beeinflusst. Im Interview spricht sie darüber, warum ihre Forschung gerade angesichts des Klimawandels und der Urbanisierung so relevant ist, welche innovativen Methoden – wie ein mobiles MRT und Zwillingsstudien – sie dabei einsetzt, und warum es Pioniergeist braucht, um dieses noch weitgehend unerforschte Gebiet zu erschließen. 

Frau Kühn, Sie wurden letztes Jahr zur Max-Planck-Direktorin berufen und haben nun den neuen Forschungsbereich Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ins Leben gerufen. Was sind die wichtigsten Fragestellungen, die Sie in diesem Bereich untersuchen möchten?  

Simone Kühn: Unser Ziel ist es, die Auswirkungen der physischen Umwelt auf den Menschen besser zu verstehen. Bisher wurde in den Neurowissenschaften der Kontext in dem Menschen leben wenig beachtet und aus unserer Sicht ist es gerade in einer Zeit, die von Klimawandel und Urbanisierung geprägt ist, immer wichtiger, dass wir verstehen, wie unsere mentale und neuronale Gesundheit von unserer Lebensumwelt abhängt.  

Wie sind Sie auf Ihr Forschungsthema gekommen? Welche persönlichen oder wissenschaftlichen Erfahrungen haben Ihre Entscheidung beeinflusst?  

Simone Kühn: Meine Forschung hat sich viele Jahre mit der Frage beschäftigt, wie sich unser Gehirn verändert, wenn wir bestimmte Dinge häufig tun, so wie Rauchen, Alkohol trinken, uns gesund ernähren, regelmäßig Sport treiben, Videospiele spielen, kognitive Aufgaben lösen. Dabei ist mir immer wieder aufgefallen, dass Proband*innen die gesundheitsfördernden Maßnahmen, die wir in diesem Zusammenhang untersucht haben, meist schnell einstellen, wenn die Studie zu Ende ist. Daher stellte ich mir die Frage, ob nicht auch unsere Lebensumwelten, die uns einfach so umgeben, einen Einfluss auf die Plastizität des Gehirns haben könnten. Wenn wir diese Umwelten entsprechend gesundheitsfördernd verändern würden, könnte das dann gleich auf viele Personen – zum Beispiel in einer Nachbarschaft – positive Effekte haben.  

Wie wollen Sie, die Wechselwirkungen zwischen unserer physischen Umgebung und unserer psychischen Gesundheit erforschen? Welche spezifischen Methoden und Technologien werden Sie dabei einsetzen?  

Simone Kühn: Wir verwenden einen ganzen Strauß verschiedener Methoden. So werten wir etwa geografische Daten rund um die Wohnadresse herum aus und wissen so beispielsweise, wie viele Grünflächen oder Straßen es in der nahen Umgebung unserer Proband*innen gibt. Mit Hilfe von virtueller Realität (VR) simulieren wir die Umwelt vollständig und können sie so auch kontrollieren. Das bringt große Vorteile, weil wir die einzelnen Wirkfaktoren, wie zum Beispiel die Menge an Grün, regeln können – aber wir schicken die Proband*innen auch auf Spaziergänge in der realen Umgebung, um die Auswirkungen der Umwelt auf den Menschen zu untersuchen. Um die uns interessierenden Effekte zu erfassen, schauen wir vor allem auf drei Aspekte: Veränderungen in der Plastizität des Gehirns wie Struktur und Größe untersuchen wir mithilfe von funktioneller und struktureller Magnetresonanztomographie (MRT). Das ist auch die Methode, die wir am häufigsten verwenden. Mit der sogenannten funktionellen Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS) messen wir physiologische Marker und somit die Funktion des Gehirns. Zusätzlich nutzen wir Verhaltensexperimente wie Leistungstests, zur Erfassung von Kognition – damit können wir beispielsweise die individuelle Wahrnehmung abfragen oder testen, wie gut man sich in verschiedenen Umwelten konzentrieren kann. 

In Zukunft wollen wir uns auch verstärkt auf Zwillingsstudien fokussieren, da gerade eineiige Zwillinge eine ausgezeichnete Möglichkeit bieten, die Effekte der Umwelt unter Konstanthaltung von genetischen Einflussfaktoren zu untersuchen.  

Sie haben basierend auf internationalen Vorbildern die erste deutsche Zwillingsdatenbank (GerTRuD) ins Leben gerufen. Könnten Sie uns ein wenig mehr über dieses spannende Projekt und seine Entstehung erzählen? 

Simone Kühn: Wir arbeiten an einer Datenbank in die sich Zwillinge, sowohl eineiige als auch zweieiige, aber auch Mehrlinge, eintragen können, um für wissenschaftliche Studien kontaktiert werden zu können. Diese Zwillingsdatenbank bauen wir in Zusammenarbeit mit führenden Zwillingsforschenden in Deutschland auf.  

Durch den einmaligen Umstand, dass eineiige Zwillinge die gleiche genetische Ausstattung haben, ermöglichen uns diese Studien einen ganz besonders gut kontrollierten Einblick in die Auswirkungen der physischen Lebensumwelten auf den Menschen. In unserem Forschungsbereich wollen wir vor allem herausfinden, inwieweit die unterschiedlichen Umwelten, die sich Zwillinge nach ihrem Auszug aus dem Elternhaus aussuchen, einen Einfluss haben auf ihre psychische und ihre neuronale Gesundheit. 

Ich finde das ein enorm spannendes Projekt und freue mich sehr darüber, dass diese Datenbank jetzt an den Start geht. Wir haben auch gerade eine Webseite gelauncht, auf der wir viele Informationen über die Zwillingsforschung aber natürlich auch zur Datenbank selbst zum Nachlesen und Registrieren versammelt haben. 

Wie wollen Sie die Erkenntnisse aus Ihrer Forschung in die Praxis umsetzen? Gibt es konkrete Projekte oder Initiativen, in denen Sie Ihre Ergebnisse anwenden möchten?  

Simone Kühn: Langfristig beabsichtigen wir durchaus, die gewonnenen Erkenntnisse breiter zu kommunizieren und damit auch Einfluss auf die Gestaltung der gebauten Umwelt und damit unserer Stadtlandschaften zu nehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es jedoch für verfrüht. Das Feld der Umweltneurowissenschaften ist noch sehr jung und wir sind noch auf der Suche nach der besten Methodik und den optimalen Studiendesigns.  

Momentan sind sie mitten in der Beschaffung eines mobilen MRT-Geräts. Was sind die Besonderheiten dieses Gerätes und was Ihre Pläne damit?  

Simone Kühn: Der große Vorteil eines mobilen MRT-Gerätes ist, dass man so Proband*innen an mehr oder weniger beliebigen Standorten messen kann. Wenn man sich, wie wir, für physische Umwelten interessiert, ist es einfach sehr schade, wenn man nur Umwelten untersuchen kann, die sich in fußläufiger Entfernung zum Standort des MRT-Scanners befinden. Wir möchten mit dem mobilen MRT-Gerät darüber hinaus auch Gruppen erreichen, die man sonst oft schwer in Studien einschließen kann, zum Beispiel ältere Menschen, Bewohner*innen von abgelegenen Umwelten oder Kinder. Die Kinder, die wir typischerweise an unserem Institut untersuchen, sind eine sehr selektive Stichprobe: Zum einen kommen sie meist aus privilegierten Haushalten, was unter anderem an unserem Standort in Dahlem liegt. Zum anderen können und wollen nicht alle Eltern ihre Kinder zu solchen Studien begleiten. Deshalb möchten wir mit dem mobilen MRT-Gerät eher aufsuchend arbeiten und zum Beispiel Studien direkt an Kitas durchführen. Natürlich immer nur mit ausführlicher Aufklärung und dem Einverständnis der Eltern – genau wie hier vor Ort. Ein anderes Beispiel sind Gefängnisinsassen: Zurzeit führen wir in einer Justizvollzugsanstalt in Hamburg eine Studie durch, bei der wir uns für die neuronalen Plastizitätsprozesse interessieren, die sich während eines einjährigen Gefängnisaufenthaltes zeigen. Auch diese Studie wäre deutlich einfacher durchzuführen, wenn man nicht jeden der Probanden mit der Polizei zum MRT eskortieren müsste.  

Wie sehen Sie die Rolle Ihrer Forschung im Kontext aktueller Herausforderungen wie Klimawandel und Urbanisierung?  

Simone Kühn: Aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, besser zu verstehen, wie unsere physische Umwelt uns beeinflusst, insbesondere im Hinblick auf unsere psychische und physische Gesundheit. Dies wird zwar die grundlegende Dynamik so großer Entwicklungen wie dem Klimawandel oder der Urbanisierung nicht beeinflussen, aber es wird uns Menschen dazu befähigen, die Elemente unserer physischen Umwelt zu bestimmen, die für unser Wohlbefinden besonders wichtig sind. So können wir uns darauf konzentrieren, diese zu erhalten oder stärker in unsere Planungen einzubeziehen – zum Beispiel im Städtebau.    

Inwiefern kann Ihre Forschung dazu beitragen, die Gestaltung von städtischen und architektonischen Umgebungen zu optimieren? Welche praktischen Anwendungen erwarten Sie?  

Simone Kühn: Meine Hoffnung wäre, dass wir in Zukunft Erkenntnisse liefern werden, die für eine evidenzbasierte Architektur und den Städtebau nutzbar sind. Eine Herausforderung dabei ist, dass Architekt*innen natürlich auch ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen in ihrer Arbeit verwirklichen wollen und in einem spezifischen Planungsumfeld bauen und daher der Gesundheitsaspekt bisher häufig nicht im Vordergrund steht. Wir haben im Rahmen eines DFG-Netzwerks gute Kontakte zu Architekten*innen etablieren können, die alle daran interessiert sind, die Wirkungsforschung im Rahmen der Architektur zu stärken. Das könnte ein guter Anfang sein.   

Sie planen eine enge Zusammenarbeit mit den anderen Forschungsbereichen des Instituts. Wo sehen Sie thematische Schnittmengen und gibt es schon konkrete Projekte?  

Simone Kühn: Mit dem Forschungsbereich Entwicklungspsychologie habe ich schon immer viele überlappende Interessen gehabt: Hier gibt es bereits Kooperationsprojekte im Rahmen einer Studie mit Kindern zur Entwicklung von räumlicher Orientierung und auch durch die Berliner Altersstudie (BASE-II) sind wir seit vielen Jahren eng verbunden. In Zukunft können wir auch die neu entstehende Forschungsinfrastruktur an unserem im Aufbau befindlichen Max Planck Dahlem Campus of Cognition sehr gut gemeinsam nutzen, so auch das geplante Wellenfeld-Audiosyntheselabor, in dem man eine realistische akustische Wiedergabe von Umwelten erzeugen kann. Auch mit dem Forschungsbereich Adaptive Rationalität gab es bereits in der Vergangenheit spannende Projekte, etwa zum Thema Metakognition, also darüber, wie wir Menschen uns und unser Handeln reflektieren. Und wir planen eine noch engere Zusammenarbeit im Bereich der virtuellen Realitäten, um zum Beispiel unser Handeln in bestimmten Umgebungen und Kontexten besser zu verstehen. Durch Kooperationen mit dem Forschungsbereich Mensch und Maschine, erweitern wir unsere Forschung um Aspekte der künstlichen Intelligenz. Hier gibt es bereits erste Projekte zu der Frage, ob Chatbots bei einsamen Menschen hilfreich sein können und welche positiven und negativen Effekte die Nutzung neuer KI-Technologien auf den Menschen haben kann. 

Sie sind eine leidenschaftliche und exzellente Wissenschaftlerin, gefragte Expertin und jetzt auch Direktorin. Mit ihrem Mann ziehen Sie in Hamburg drei Kinder auf. Wie organisieren Sie Ihren Alltag zwischen den beiden Städten Berlin und Hamburg? Welche Strategien haben sich für Sie bewährt?  

Simone Kühn: Ja, die Tatsache, dass unser jüngstes Kind gerade erst ein Jahr alt ist und ich zeitgleich zur Direktorin berufen wurde, stellt uns vor eine besondere Herausforderung. Aber ich empfinde beides als große Bereicherung. Unsere Tochter begleitet mich derzeit überall hin, und wenn wir in Berlin sind, besucht sie die Kooperationskita unseres Instituts. Ich habe den Eindruck, dass sie die Zeit in Berlin genießt, in der sie mich ganz für sich hat, und dass sie in Hamburg gerne Zeit mit ihren Brüdern verbringt. Meiner Forschung, die ich liebe und die mich antreibt, in diesem Alltag genügend Raum zu geben ist manchmal wirklich herausfordernd und funktioniert nur, weil ich hier am Institut die Möglichkeit habe, meine Tage individuell zu takten. Oft arbeite ich sehr früh am Tag oder auch spät am Abend. Mir ist aber wichtig, dass klar ist: Meine Arbeitszeiten erwarte ich von anderen nicht, sondern sie sind meiner Situation geschuldet. Und wenn sich ein unüberwindlich erscheinender Berg an Arbeit vor mir auftürmt, versuche ich gelassen zu bleiben, denn wenn ich eine Sache gelernt habe im Familienleben, dann ist es “Panta rhei”, alles ist im Fluss, alles verändert sich und vieles im Leben sind nur Phasen.  

Als erfolgreiche Frau mit Familie in der Wissenschaft sind Sie ein Vorbild. Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in dieser Zuschreibung?  

Simone Kühn: Ich hoffe sehr, dass ich dadurch, dass ich in meiner neuen Position mit meiner Jüngsten so viel und so sichtbar unterwegs bin, anderen Eltern oder denen, die es werden wollen, Mut machen kann, ihren eigenen Weg zu finden, Familie und Beruf zu kombinieren. Und vielleicht ein paar Frauen davon abhalten kann vorschnell zu denken, dass sie ihre wissenschaftliche Karriere aufgeben müssen, wenn es zwischendurch Phasen gibt, in denen sie vermeintlich weniger leistungsfähig sind. Wie gesagt: Alles ist im Fluss.  

Ihr Forschungsbereich ist noch im Aufbau und Sie suchen nach talentierten Wissenschaftler*innen. Welche Qualifikationen und Eigenschaften sollten Bewerber*innen mitbringen, um in Ihrem Team erfolgreich zu sein?  

Simone Kühn: Wir freuen uns ganz besonders über Menschen, die neugierig sind und den Mut haben sich auf ein Forschungsgebiet einzulassen, das es so noch kaum gibt. Wir arbeiten mit vielen Unbekannten. Es gibt kaum Übersichtsarbeiten, keinen anerkannten Wissenskanon und auch kaum eine Community, die sich auf Definitionen geeinigt hat. Insofern ist Pioniergeist sicherlich wichtig – schließlich wollen wir mit einem mobilen MRT-Gerät auf Expedition gehen – und die Fähigkeit mit verschiedenen Disziplinen (z.B. Architektur, Geowissenschaften, Landschaftsplanung, Forstwirtschaft, Computer Science) zu interagieren und das inspirierend zu finden.  

Zur Person:  
Simone Kühn studierte Psychologie an der Universität Potsdam. Sie ist der Max-Planck-Gesellschaft seit Jahren verbunden. Sie war studentische Hilfskraft am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. und im Anschluss Doktorandin am Max-Planck-Institut für Neuro- und Kognitionswissenschaften in Leipzig. Nach Postdoc-Stationen an der Ghent University in Belgien, dem University College in London und der Charité – Universitätsmedizin Berlin, leitete sie von 2012 bis 2016 die Gruppe „Plastizitätsmechanismen und -progression“ am Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Danach trat sie eine Heisenberg-Professur am Universitätsklinikum Hamburg‐Eppendorf (UKE) an. 2019 kehrte sie als Leiterin der Lise-Meitner-Gruppe Umweltneurowissenschaften ans Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zurück. Seit Juli 2024 ist sie Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.   

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