„Alles mit Maß“ – Über die Wirksamkeit früher Covid-19-Maßnahmen
Leonidas Spiliopoulos beantwortet Fragen zu seiner in der Fachzeitschrift BMC Public Health veröffentlichten Studie
Eine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführte Studie untersuchte die Wirksamkeit früher Covid-19-Maßnahmen, beispielsweise Lockdowns und anderen nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPIs). Hier stellt Autor Leonidas Spiliopoulos die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie vor und erläutert, was wir für zukünftige Pandemien mit vergleichbaren Verläufen lernen können.
Was sagt die Studie aus?
Leonidas Spiliopoulos: Einer der wichtigsten Aspekte dieser Studie ist, dass sie verbesserte Einschätzungen der Auswirkungen nicht-pharmazeutischer Interventionen (NPIs) über alle möglichen Härtegrade hinweg liefert und daher Hinweise auf den optimalen Policy-Mix geben kann. Im Gegensatz zu anderen Studien berücksichtigen diese Schätzungen auch freiwillige Verhaltensänderungen der Bürger sowie die Reaktionen der Regierung auf die Schwere einer Pandemie, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt. Durch die Verwendung von Mobilitätsdaten von Google Maps lassen sich außerdem bessere Schätzungen darüber anstellen, wie sich die abnehmende Mobilität auf die interessierenden Variablen der Pandemie ausgewirkt hat, z. B. die Wachstumsraten der Krankheits- und Todesfälle.
Was sagt die Studie nicht aus? Wo sind ihre Grenzen?
Die Studie kann umfassende Empfehlungen für wirksame NPIs geben, aber nicht den optimalen Mix von NPIs für ein bestimmtes Land oder eine Region innerhalb eines Landes. Diese hängen von den individuellen Merkmalen des Landes oder der Region ab. So können beispielsweise die Bevölkerungsdichte, die Lebensbedingungen, die Verteilung der Altersgruppen und der Tourismus die Übertragungs- und Sterblichkeitsraten beeinflussen und von Region zu Region unterschiedlich sein. Die Studie kann auch keine genaue Messung der positiven Auswirkungen von Impfungen liefern, da sie sich auf den Zeitraum vor der breiten Einführung von Impfstoffen konzentriert. Letztendlich untersuchte die Studie die Auswirkungen der NPIs auf die Zahl der bestätigten Krankheits- und Todesfälle, erfasst aber nicht die Auswirkungen des Zustands nach Covid-19 (Long Covid).
Was sagt die Studie über den Einfluss von einzelnen Maßnahmen aus?
Die Studie zeigt, dass umfassende und kostenfreie Tests schon 50 Prozent soviel brachte wie die Auswirkungen des optimalen NPI-Mixes und das mit vernachlässigbaren anderen sozialen Kosten. Außerdem führte das Zwischenziel, die soziale Mobilität deutlich zu verringern, nicht zu den erwarteten Vorteilen. Allerdings trugen öffentliche Informationskampagnen erheblich zur Aufklärung der Bevölkerung bei und führten zu freiwilligen Verhaltensänderungen mit positivem Einfluss auf die Pandemiedynamik. Das Herunterfahren des öffentlichen Verkehrs, die Verordnung zu Hause zu bleiben und internen Reisebeschränkungen spielten bei der Eindämmung der Pandemie keine wichtige Rolle. Dagegen waren Empfehlungen (aber nicht unbedingt Anordnungen), von zu Hause aus zu arbeiten, Schulen zu schließen, öffentliche Veranstaltungen abzusagen und Veranstaltungen mit mehr als etwa 100 Personen einzuschränken, hilfreich bei der Eindämmung der Pandemie. Internationale Mobilitätsbeschränkungen in Form von Quarantänemaßnahmen für Einreisende aus Hochrisikoregionen waren ebenfalls wirksam.
Mit dieser Studie können nicht die individuellen Auswirkungen vieler spezifischer Verhaltensänderungen (z. B. Maskentragen, Händewaschen, soziale Distanzierung) gemessen werden; entweder ist es schwierig oder unmöglich, diese Änderungen objektiv zu messen, oder es lagen in dem untersuchten Zeitraum nicht genügend Daten vor, um länderübergreifende Vergleiche zu ermöglichen. Einschätzungen zu diesen Auswirkungen finden sich aber in anderen Studien, die sich speziell mit diesen einzelnen Verhaltensweisen befassen. In der vorliegenden Studie werden jedoch die Auswirkungen einiger messbarer Verhaltensänderungen direkt erfasst – beispielsweise verringerten die Menschen freiwillig ihre Mobilität, als die Wachstumsrate der Fälle zunahm. Außerdem erfasst die Studie indirekt noch andere freiwillige Verhaltensweisen – so erwiesen sich beispielsweise umfassende Tests als äußerst wirksam. Allerdings können Tests allein keine Wirkung haben, wenn die positiv getesteten Personen nicht freiwillig mitarbeiten, indem sie sich selbst isolieren, soziale Kontakte meiden usw. bis sie nicht mehr ansteckend sind. Man kann daher schlussfolgern, dass die freiwilligen Verhaltensänderungen der Menschen insgesamt eine wichtige positive Auswirkung auf die Pandemiedynamik hatten.
Was können wir aus dieser Studie für zukünftige Pandemien lernen?
Wie bei anderen Covid-19-Studien sind die in dieser Studie gezogenen Schlussfolgerungen auch für Pandemien mit ähnlichen Merkmalen wie die von Covid-19 relevant. Die Studie empfiehlt ausdrücklich ausführliche Tests als effizienten Mechanismus, der die Dynamik einer Pandemie erheblich beeinflusst, ohne hohe soziale Kosten zu verursachen. Bei einer ähnlichen künftigen Pandemie sollten die Ressourcen dafür eingesetzt werden, so schnell wie möglich genaue Tests zu entwickeln und diese der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Es wurde festgestellt, dass harte Beschränkungen im Vergleich zu den, in der Studie ermittelten, moderaten NPIs die Fall- und Sterberaten nicht weiter senken – und im Vergleich zu moderaten Maßnahmen, sogar zu einer Verringerung des allgemeinen sozialen Wohlbefindens führen können. Allerdings könnte eine künftige Pandemie mit deutlich höheren Sterblichkeitsraten mit härteren Beschränkungen besser bewältigt werden. Eine weitere wichtige Erkenntnis aus dieser Studie ist, dass einerseits Menschen freiwillig ihr Verhalten vielseitig änderten, was sich bei der Eindämmung von Covid-19 als wirksam erwiesen hatte, und dass andererseits öffentliche Informationskampagnen relativ erfolgreich waren, so dass verbindliche Beschränkungen möglicherweise überflüssig werden. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass zukünftig in ähnlichen Fällen eine verstärkte Konzentration auf Informationskampagnen und Kommunikation von Vorteil wäre.
Waren die Corona-Maßnahmen und die Regierungspolitik zu hart oder angemessen?
Zu Beginn einer Pandemie besteht große Unsicherheit über ihre Merkmale, insbesondere die Übertragbarkeit und die Sterblichkeitsrate. Genaue Schätzungen dieser Variablen erfordern eine große Menge an Daten, die im Laufe der Zeit gesammelt werden müssen. Daher ist es nicht ungerechtfertigt, dass die erste Reaktion auf eine Pandemie hart ausfällt, um das Risiko einer hohen Sterblichkeitsrate zu vermeiden. In dieser Studie wird argumentiert, dass die Regierungen, sobald die Situation verständlicher wird, ihre Maßnahmen neu bewerten und die Vor- und Nachteile verschiedener NPIs abwägen können – und sollten –, um unnötige soziale Härten zu vermeiden. In der Studie wird nicht versucht zu ermitteln, was die optimale anfängliche Politik gewesen wäre, und in der Tat wäre dies auf der Grundlage der damals verfügbaren Informationen zu diesem Zeitpunkt vielleicht auch nicht möglich gewesen. Wenn wir jedoch die Vergangenheit mit dem Wissen betrachten, das wir heute haben, werden wir in der Lage sein, möglichen künftigen Pandemien besser zu begegnen.
Können Schlussfolgerungen für einzelne Länder gezogen werden?
Der Vorteil dieser Studie besteht darin, dass sie durch die Zusammenführung von Informationen aus so vielen Ländern die durchschnittlich zu erwartenden Auswirkungen verschiedener NPIs zuverlässiger abschätzen kann, da sie viel mehr Daten umfasst. Länderspezifische Empfehlungen würden jedoch auf sehr viel begrenzteren, aber spezifischeren Daten beruhen. Idealerweise würde die Gesundheitspolitik aus Studien wie dieser, die die durchschnittlichen Auswirkungen untersuchen und länderspezifische Studien, empirisch ausgewertet werden. Diese Studie kann als Ausgangspunkt für die Überlegungen angemessener öffentlicher Richtlinien dienen, sollte dann aber entsprechend den länderspezifischen Merkmalen feinabgestimmt werden. So könnten beispielsweise Länder mit einer höheren Bevölkerungsdichte, einem höheren Anteil älterer Bürger usw. stärker von härteren NPI profitieren als andere Länder, die wiederum in der Lage sein könnten, einen besseren Policy-Mix mit weniger sozialen Kosten zu erreichen.