„Das sind wir“ – Fragen an Julia Wambach
Unser Institut hat über 300 Mitarbeitende. Doch das ist nur eine Zahl. Wer sind die Menschen an unserem Institut? Womit beschäftigen sie sich und was treibt sie an? In unserem Format „Das sind wir“ beantworten Kolleg*innen Fragen zu ihrer Arbeit und ihrer Motivation.
Anlässlich des internationalen Frauentags am 8. März 2023 haben wir die Reihe "Das sind wir" mit 15 Wissenschaftlerinnen unseres Instituts gestartet. Wir knüpfen daran an und stellen die Wissenschaftlerin Julia Wambach aus dem Forschungsbereich Geschichte der Gefühle vor. Im vorigen Artikel von „Das sind wir“ wurde Anne-Marie Nussberger aus dem Forschungsbereich Mensch und Maschine vorgestellt.
Du beschäftigst Dich im Forschungsbereich Geschichte der Gefühle unter anderem mit der Geschichte der Deindustrialisierung seit den 1960er Jahren in Deutschland und Frankreich. Was fasziniert Dich an dem Thema?
Deindustrialisierungen sind riesige wirtschaftliche Transformationsprozesse, die langwierig und schmerzhaft sind und sich auf alle Aspekte des Lebens auswirken. Damit können sie ähnlich einschneidend sein wie Regimewechsel oder Kriege. Die Folgen von der Deindustrialisierung, die ich untersuche, das langsame Ende der Kohle und Stahlproduktion seit den 1960er Jahren in Westeuropa, prägen uns bis in die Gegenwart. Die Wirtschaft, die ein Jahrhundert lang auf Kohle und Stahl gesetzt hatte, brach weg und musste mühsam und nicht immer erfolgreich neu aufgestellt werden. Wie Menschen mit diesen wirklich großen Herausforderungen und Krisen finanzieller, aber auch sozialer und emotionaler Art umgingen, fasziniert mich.
Du beschäftigst vor allem mit der Deindustrialisierung in Gelsenkirchen. Kannst Du kurz erklären, wie die Situation damals ausgesehen hat?
Gelsenkirchen war über 150 Jahre mit Stolz eine der größten Bergbaustädte Europas: Doch seit Mitte der 1960er Jahre erlebte sie einen langsamen Niedergang, 2008 wurde die letzte Zeche geschlossen. Gelsenkirchen wandelte sich durch die Deindustrialisierung innerhalb von vierzig Jahren von einer quirligen, modernen Industriestadt in eine Stadt, die deutschlandweit negative Schlagzeilen machte: Die Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit, Kinderarmut und der geringsten Lebenserwartung.
Inwiefern wurde dadurch das Gemeinschaftsgefühl positiv, wie negativ innerhalb der Stadtbevölkerung beeinflusst?
Das Zechensterben hatte auch Folgen für das Gemeinschaftsgefühl in der Stadt, da viele soziale Kontakte und auch Freizeitaktivitäten wegfielen, welche vormals über die Arbeit organisiert wurden. Die sozialdemokratische Stadtverwaltung bemühte sich redlich, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, konnte jedoch nicht alles auffangen. Es gab aber auch trotzige Gegenreaktionen auf dieses, als Stigmatisierung empfundene, schlechte Image Gelsenkirchens. So ließ ein Stadtführer T-Shirts drucken mit der Zahl #401 – das war Gelsenkirchens letzter Platz in einer Studie zur lebenswertesten Stadt Deutschlands aus dem Jahr 2018 – und setzte so ein Zeichen für den Zusammenhalt der Gelsenkirchener gegen die Stigmatisierung von außen. Ich interessiere mich vor allem für Orte von Gemeinschaft und Solidarität, die die Deindustrialisierung überdauert oder die vielleicht sogar währenddessen neu entstanden sind. Das ist zum Beispiel das Stadion des Fußballklubs FC Schalke 04, der sich seit Mitte der 1990er Jahre als Retter und Heimat der Bergleute inszenierte. Oder das städtische Museum, das die positive Umdeutung eines Schmähbegriffs anstieß, dem sogenannten "Gelsenkirchener Barock". Anfang der 1990er Jahre wurde dort eine Ausstellung mit Möbelschränken (sogenannten "Schrankmonster") im Stil des Gelsenkirchener Barocks organisiert, um sich ironisch und stolz dem Schmähbegriff zu stellen und so der Stadt und ihren Einwohnern ein positives Image, losgelöst von der Deindustrialisierung und ihren Folgen, zu geben.
Gibt es Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich?
Ja, zum Beispiel sagte mir ein Zeitzeuge aus Gelsenkirchen, "In Frankreich haben sie einfach das Zechentor zugemacht und den Schlüssel weggeworfen, wir haben das hier ordentlich abgewickelt." Das ist natürlich ein etwas holzschnittartiger Vergleich, aber hat einen wahren Kern, der damit zu tun hat, dass die Kohle-Subventionen in Deutschland viel langsamer ausgelaufen sind als in Frankreich und Prozess der Deindustrialisierung in Deutschland somit langsamer und damit auch behutsamer ablief. In meinem französischen Fallbeispiel Lens in Nordfrankreich schloss die letzte Zeche bereits 1986, in Gelsenkirchen erst gut zwanzig Jahre später. Welche sozialen und emotionalen Folgen diese unterschiedlichen Chronologien der Deindustrialisierung haben, untersuche ich in meiner Arbeit.
Wann hast Du Dich entschieden, Wissenschaftlerin zu werden? Wie hast Du dich für dieses Studienfach entschieden?
Ich habe schon sehr früh Kindergeschichten zum Zweiten Weltkrieg gelesen, da war ich so neun oder zehn Jahre alt und Geschichten "von früher", insbesondere aus dieser Zeit des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit waren in meiner Familie sehr präsent. Mich hat diese für mich sehr fremde, vergangene Welt, deren Spuren ich aber in meiner Gegenwart wiederfand, so fasziniert, dass ich schon in der Schule beschlossen habe, Geschichte zu studieren, um mich damit intensiver beschäftigen zu können. Und diese Faszination mit der Vergangenheit, die aber unsere Gegenwart immanent prägt, treibt mich auch als Wissenschaftlerin immer weiter an.
Vor welchen Herausforderungen stehst Du als Wissenschaftlerin?
Neben den ganz alltäglichen Herausforderungen als working parent, ist für mich eine Herausforderung, die national unterschiedlichen Anforderungen an meine wissenschaftliche Arbeit und damit letztlich auch Arbeitsmärkte zu navigieren. Ich habe in Deutschland und Frankreich studiert und in den USA promoviert und bin nun als Postdoc wieder zurück im deutschen System, das von mir eine lange Publikationsliste erwartet und sehr schnell ein zweites Buch zu einem Thema, das ganz unterschiedlich ist, als meine Dissertation. In den USA oder Frankreich arbeitet man in meinem Feld wesentlich länger zu einem Themenbereich und – zumindest in den USA – wird eine andere Art wissenschaftlichen Outputs erwartet als hierzulande, nämlich wenige peer-reviewed Journal-Artikel und ein gut überarbeitetes Buch auf Basis der Dissertation. Den verschiedenen akademischen Systemen gerecht zu werden, ist ein ziemlicher Spagat.
Was schätzt Du an der Max-Planck Community?
Das inspirierende, internationale Umfeld, den offenen Austausch und die gemeinsamen Projekte mit meinen Kolleg*innen auch über Fächergrenzen hinweg. Die Max Planck Community treibt mich immer wieder an, meine Forschung mit fremden Augen zu sehen, neue Fragen zu stellen und meine Forschung in größere Zusammenhänge einzuordnen.