Ute Frevert: „International und national haben wir hier ordentlich Wind gemacht.“
Interview mit Ute Frevert anlässlich der Verabschiedung des Forschungsbereichs Geschichte der Gefühle – mit weiterführendem Video auf YouTube
Frau Frevert, in diesem Jahr beenden Sie nach 16 Jahren Ihren Forschungsbereich hier am MPIB. Ihre Abschlussveranstaltung stand unter dem Motto Abschiedsschmerz und Aufbruchstimmung. Was überwiegt gerade?
Die Aufbruchstimmung trifft wohl eher auf die jungen Mitarbeiter*innen zu, deren Verträge am 30.6. auslaufen und die sich neu orientieren müssen und wollen; viele haben bereits attraktive Anschlusspositionen im In- und Ausland gefunden, was mich sehr freut. Bei mir wechseln sich die Melancholie und der Abschiedsschmerz ab mit Vorfreude auf ein neues Buch, das ich in den kommenden Monaten schreiben werde.
Schon Ende der 1990er haben Sie als eine der ersten Historiker*innen Gefühle in den Mittelpunkt Ihrer Forschung gestellt. Was bewog Sie zu diesem Perspektivwechsel und wie reagierte Ihr wissenschaftliches Umfeld?
Am Anfang war Günther Anders… Der Philosoph und Ex-Mann von Hannah Arendt veröffentlichte 1986 ein schmales Buch „Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens“. Ich las es zwei Jahre später und war getriggert. Da standen solche Sätze - dass die Geschichte „stets als Geschichte sich verändernder Emotionen vor sich gegangen“ sei und dass Historiker Geschichte auch als „Geschichte der Gefühle“ schreiben sollten. Das hat mich angefixt. Es fügte sich auch gut in meine bisherigen Forschungsinteressen und Themen ein: die Geschichte sozialer Klassen und Geschlechter, die Geschichte kultureller Formen. Wie die Kollegen aus dem Fach reagierten? Eher skeptisch bis abschätzig – „typisch Frau“, „was macht sie denn da schon wieder“, „was bringt das schon Neues“…
Direkt vor Ihrer Zeit am Institut waren Sie mehrere Jahre Professorin für Deutsche Geschichte in Yale. Inwiefern hat diese Zeit Sie und Ihren Blick auf den deutschen Wissenschaftsbetrieb geprägt?
Sie war in mehrfacher Hinsicht ein eye opener. Zum einen musste ich mich als Deutschland- und Europa-Historikerin neu erfinden. Deutsche Geschichte in den USA zu lehren, ist vollständig anders, als das gleiche in Deutschland zu tun. Hier arbeitet man mit Studierenden, die schon in der Familie, spätestens in der Schule mit den zentralen Narrativen der deutschen Geschichte Bekanntschaft geschlossen haben. In den USA trifft man auf ganz andere Vorkenntnisse und Vorverständnisse. Da heißt es zunächst einmal: Brücken bauen, Fremdes zu übersetzen und in den Nahbereich zu rücken, ohne die Fremdheit zu verneinen. Ich lernte aber auch eine ganz andere Form des wissenschaftlichen Betriebes kennen. Die Studierenden in Yale waren die Crème de la Crème und verstanden sich auch so, sie waren „hungrig“ und forderten die Lehrenden heraus. Besonders beeindruckt hat mich der Umgang mit den Doktoranden: sie galten als Kollegen in spe und wurden auch als solche behandelt, auf Augenhöhe, nicht hierarchisch. Das habe ich mir gemerkt.
2007 wurden Sie von der MPG als erste Direktorin an das MPIB berufen, das bis dato schon fast 50 Jahre bestand. Auch war ihr Forschungsbereich ein Novum am Institut. Können Sie uns von den Anfängen im Institut erzählen?
Die Volksweisheit hält hier zwei Merksätze parat: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“ versus „Aller Anfang ist schwer“. Beides trifft in meinem Fall zu. Ich war begeistert von den Möglichkeiten, die der Aufbau eines neuen Forschungsbereichs bot – die Entwicklung eines komplexen Forschungsprogramms, die passgenaue, aber nicht überraschungsfreie Rekrutierung von Mitarbeitenden, die Formung eines Teams, das ohne Ellenbogen zusammenfindet. Zugleich fühlte ich mich immer unter Beobachtung – würde ich das schaffen? Beobachter gab es, in meiner Vorstellung, unendlich viele: ich selber, meine Kollegen am MPIB, meine Kollegen außerhalb der MPG. Irre viele – und vor allen konnte ich scheitern. Das war schon ein enormer Stressfaktor.
Ihren neugegründeten Forschungsbereich haben Sie der “Geschichte der Gefühle” gewidmet. Was waren Ihre Ziele und Erwartungen und inwiefern haben sich diese erfüllt?
Ich hatte 2007/2008 den Eindruck, dass die Geschichte der Gefühle ein neues und anschlussfähiges Forschungsgebiet sein würde – eine Perspektive, die die Historiker mit anderen Disziplinen teilen könnten, vor allem mit Psychologen, die damals drei Viertel des MPIB-Personals stellten. Ich hatte das Thema „Gefühle“ nicht nur als black box der Geschichtswissenschaft ausgeflaggt, sondern auch als Brücke zur Psychologie. Psychologen waren schließlich die berufenen Experten für Gefühle, ihre Entstehung und Äußerungsformen. In der Praxis hat es sich dann aber herausgestellt, dass diese Brücke eher instabil war. Das, was Historiker an Gefühlen interessiert – ihre Geschichts- und Kulturgebundenheit, ihre Erlernung und ihre historisch konkreten Praxisformen -, das ist nicht unbedingt das, was Psychologen daran spannend finden. Außerdem unterscheiden sich die Methoden und Arbeitsweisen, auch die Art, wie wir Forschung organisieren, die Zeithorizonte und Publikationsrhythmen. Diese Unterschiede zu akzeptieren und zu respektieren und trotzdem einen Weg zu finden, Perspektiven produktiv zusammenzuführen und daraus neue Funken zu schlagen – das war eine Herausforderung, an der wir im Institut gescheitert sind, alle zusammen.
Dafür war unser Erfolg in den Geschichtswissenschaften umso beglückender. International und national haben wir hier ordentlich Wind gemacht.
Auf welche Weise hat Ihr Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" die Geschichtswissenschaft und angrenzende Disziplinen beeinflusst?
Nachdem viele Historiker-Kollegen anfänglich die Oberlippe hochgezogen und dem Forschungsbereich eine kurze Lebensdauer vorausgesagt haben, wandelte sich die Stimmung erstaunlich schnell. Mittlerweile ist die „Geschichte der Gefühle“ auch an den Universitäten „angekommen“ und erfreut sich unter Studierenden und jungen Forschenden großer Beliebtheit. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Gefühle in unserer Gegenwart stark präsent sind und als solche öffentlich wahrgenommen und diskutiert werden – in Politik und Wirtschaft ebenso wie in den privaten Beziehungen. Das weckt Fragen nach den historischen Konjunkturen von Gefühlen und deren Gründen.
In den letzten 16 Jahren hat Ihr Forschungsbereich zahlreiche Publikationen, Projekte und Veranstaltungen hervorgebracht. Zuletzt auch viele Gemeinschaftsprojekte. Welche sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben und warum?
Again: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“… Unsere erste Gemeinschaftsproduktion (ein Genre, das für Geisteswissenschaftler unüblich ist) hieß „Gefühlswissen“. Wir haben uns monatelang über Enzyklopädien und historische Wörterbücher gebeugt, um daraus das zeitgenössische Wissen über Gefühle, Passionen, Empfindungen, Begierden, Affekte zu rekonstruieren – und es dann in einen Zusammenhang mit den allgemeinen „Signaturen der Zeit“ zu bringen. Das war irrsinnig zeitaufwendig – aber die Arbeit hat sich gelohnt.
In Ihrer erfolgreichen Ausstellung „Die Macht der Gefühle 19|19“ haben Sie 20 Gefühle mit Blick auf ihren Einfluss in der deutschen Geschichte beleuchtet und deren Entwicklung im 20. Jahrhundert aufgezeigt. Welches Gefühl ist Ihrer Meinung nach kennzeichnend für die Gegenwart?
Die Angst. Viele Ängste. Angst vor sozialem Abstieg trifft auf Angst vor Zukunftsverlust. Der Zeithorizont scheint sich zu verengen, die Katastrophenszenarien nehmen überhand. Viele Menschen reagieren darauf mit Verunsicherung und suchen nach festen Ankerpunkten; immer mehr finden sie in populistischen Parteien, die mit dieser Angst ihr Geschäft betreiben.
In vielen Beiträgen äußern Sie sich zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Was ist Ihnen dabei wichtig und was ist Ihr Antrieb?
Ich bin Wissenschaftlerin, aber ich bin auch Bürgerin – die ihre „Bürgerinnenpflicht“ nicht nur darin sieht, Steuern zu zahlen und wählen zu gehen. Ich empfinde mich als einen politischen Menschen im weitesten Sinn und möchte die Gesellschaft, in der ich lebe, mitgestalten. Dabei hilft mir die Geschichte, als ein Instrument „politischer Aufklärung“.
Sie sind eine äußerst erfolgreiche Frau in der Wissenschaft und beziehen auch immer wieder zu Fragen der Gleichstellung Position. Was würden Sie Frauen raten, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben?
Erstens: es lohnt sich. Zweitens: lasst Euch nicht entmutigen. Drittens: Sucht euch den richtigen Partner, die richtige Partnerin, das richtige „Netzwerk“.
Möchten Sie abschließend noch Ihre Pläne für die Zukunft mit uns teilen?
Ein neues Buch schreiben (über „Verfassungsgefühle“). Mich in der Max-Weber-Stiftung für Wissenschaftsfreiheit und gute geisteswissenschaftliche Forschung stark machen. Innerhalb und außerhalb der MPG an der Stärkung deutsch-israelischer Beziehungen mitwirken, gerade in diesen schwierigen Zeiten und trotz dieser grauenhaften israelischen Regierung. Mehr und besser Klavierspielen. Alte und neue Freundschaften pflegen. Viel Zeit mit den Enkelkindern verbringen. Und noch mehr Zeit mit meinem Mann.