Was dem Menschen wichtig ist

Kaum angesprochen: Umwelt, Innovation und Technologie, Europa

Dieser Gastbeitrag von Gert G. Wagner, Julia M. Rohrer und Martin Brümmer ist in gekürzter Fassung am 27. Januar 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen („Hauptsache gesund und ein Leben in Frieden“, S.11).

Eine Bestandsaufnahme der Lebensqualität in Deutschland – darum ging es im Regierungsprojekt „Gut leben in Deutschland“. Im Herbst 2016 wurde pünktlich der Abschlussbericht vorgelegt. Diese Bestandsaufnahme soll helfen, dass politische Maßnahmen gezielter auf jene Aspekte konzentriert werden, welche von den Menschen in Deutschland als wichtig für die Lebensqualität angesehen werden. Kritiker halten entgegen, dass die Regierung es eigentlich nicht ernst gemeint hat und dass die Statistiken nichts ändern werden. Selbst wenn in der Tat momentan ziemlich wahrscheinlich ist, dass dieses Regierungsprojekt unmittelbar keine merklichen Konsequenzen für das politische Handeln haben wird, steht aber eine wertvolle Einsicht jetzt schon fest: Fragt man die Menschen danach, was ihnen wichtig ist und was Lebensqualität für sie bedeutet, dann spielen einige Themen, die in der Politik eine große Rolle spielen – beispielsweise Umwelt, Innovationen und Europa – eine Nebenrolle.

Im Jahr 2015 wurden über 200 „Bürgerdialoge“ durchgeführt, die größtenteils von Verbänden und anderen gesellschaftlichen Organisationen organisiert wurden. Jeder Bundesminister und auch die Kanzlerin besuchten jeweils etwa drei solcher „Townhall-Meetings“. Darüber hinaus beantworten etwa 10.000 Menschen online oder per Postkarte die Leitfragen des Bürgerdialogs: „Was ist Ihnen persönlich wichtig im Leben?“ und „Was macht Ihrer Meinung nach Lebensqualität in Deutschland aus?“ Freilich handelte es sich hierbei nicht um eine repräsentative Auswahl aus der Bevölkerung Deutschlands und so liegt die Vermutung nahe, dass gerade die politisch Interessierten und andere aktiven Gesellschaftsgruppen vermehrt ihre Definition von Lebensqualität in den Bürgerdialog eingebracht haben.

Deswegen lohnt es sich, eine repräsentative Erhebung als Vergleich heranzuziehen. Die beiden Leitfragen der Bundesregierung zur Lebensqualität  wurden 2015 auch in die Befragung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aufgenommen; einer großen Studie am DIW Berlin im Rahmen der Leibniz-Gemeinschaft. Damit liegen Antworten von 20.000 Befragten einer repräsentativen Stichprobe für die in Privathaushalten lebende Wohnbevölkerung in Deutschland vor. Diese repräsentativen Daten können und wollen nicht die punktuelle Erhebung des Regierungsprojektes ersetzen: Während in der SOEP-Erhebung meist sehr kurze Antworten gegeben wurden, umfasste der Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ weiterführende Diskurse und sammelte online teilweise auch sehr ausführliche Aufsätze. Insofern ergänzen sich die unterschiedlichen Erhebungsmethoden in Stärken und Schwächen: Auf der Seite des Bürgerdialogs tiefere Antworten bei denen jedoch unklar bleibt, inwiefern die Ergebnisse sich auf weitere Teile der Bevölkerung generalisieren lassen; auf der Seite der SOEP-Erhebung ein vergleichsweise oberflächlicherer Einblick in das Thema Lebensqualität, der jedoch auf einem repräsentativen Schnitt durch die deutsche Bevölkerung beruht.

In der SOEP-Erhebung berichteten mit 97% fast alle Befragten, was ihnen im Leben wichtig ist. Mit 85% beantwortete zwar immer noch ein Großteil die Frage zur Definition von „Lebensqualität in Deutschland“, aber zumindest lässt sich hier vermuten, dass keine Antwort auf die Frage bereits ein Statement zur Lebensqualität in Deutschland ist – dass sie nämlich nicht hundertprozentig stimmt.

Die Antworten im SOEP bestanden meist nur aus einer Handvoll Stichwörtern wie beispielsweise „Meinungsfreiheit, Gesundheitssystem, Sicherheit, Frieden.“ Dieser bündige Antwortstil erleichtert die Auswertung enorm: Nach einer automatisierten Aufarbeitung der Textdaten, um beispielsweise Rechtschreibfehler zu beheben und Variationen von Wörtern auf die gleiche Form zurückzuführen, lässt sich die Häufigkeit einzelner Wörter auszählen, um so zu einem aussagekräftigen Bild zu kommen. Insgesamt zeigte sich keine großen Unterschiede zwischen Ost und West, weswegen sich die folgenden Ausführungen auf ganz Deutschland beziehen.

Was also ist Menschen in Deutschland wichtig im Leben? Abbildung 1 zeigt eine Visualisierung der Antworten auf diese Frage. Deutlich wird, dass Gesundheit und nahestehende Mitmenschen – Familie, Kinder, Freunde – mit Abstand am häufigsten genannt werden. Bereits an vierter Stelle steht aber bereits ein Begriff, der sich auf die Gesellschaft als Ganzes bezieht: Frieden. Dieser Begriff wird dabei etwa im gleichen Ausmaß mit Bezug auf den sozialen Frieden als auch auf den internationalen Frieden verwendet. In den Top 25 der am häufigsten verwendeten Begriffen tauchen neben abstrakteren Konzepten wie Zufriedenheit und Harmonie auch Arbeit und materielle Belange (Einkommen, Finanzielles, Geld) auf. Wenn man „keine Angabe“ auch als Antwort interpretiert, so erreicht sie Platz 9.

Und was bedeutet den Befragten „Lebensqualität in Deutschland“?

„Keine Angabe“ ist hier wesentlich bedeutsamer da, wie bereits erwähnt, recht viele Befragten die Frage gar nicht beantwortet haben; sie steht an 3. Stelle. Das Wörtchen „sicher“, miteingeschlossen darauf aufbauende Wörter wie Sicherheit, steht mit Abstand an erster Stelle, gefolgt von „sozial“. Etwa in der Hälfte der Fälle, in denen „sicher“ oder „sozial“ genannt werden, treten die Begriffe gemeinsam auf: Die soziale Sicherung wird als Kernthema der Lebensqualität aufgeführt. Frieden folgt auf Platz vier und wurde damit bei beiden Fragen oft angeführt. Somit zeigt sich eine gewisse Übereinstimmung mit den Ergebnissen aus dem Bürgerdialog, in dem Frieden generell als das wichtigste Thema identifiziert wurde. Aber auch die Freiheit wird von den Befragten als Merkmal der Lebensqualität aufgeführt, sie schafft es auf Rangplatz 6. Erneut folgen das Thema Arbeit und Begriffe zur materiellen Absicherung.

Kaum angesprochen: Umwelt, Innovation und Technologie, Europa

Damit zeigt sich ein recht klares Bild davon, was Menschen in Deutschland unter Lebensqualität verstehen: Auf der persönlichen Seite sind es Gesundheit, soziale Beziehungen, Arbeit; auf gesellschaftlicher Seite Sicherheit und soziale Sicherung, Frieden und Freiheit. Auffällig ist, dass viele Kernthemen aus der Politik in der Rangfolge der genannten Begriffe weiter hinten stehen. Das sieht man besonders deutlich am Beispielkomplex Natur- und Umweltschutz: Das Thema kommt bei beiden Fragen nur jeweils in etwas mehr als einem Prozent der angegebenen Worte vor; die Zeichenfolge „Umwelt“ schafft es jeweils nicht in die Top 30, selbst wenn man Antworten miteinbezieht, die den Anteil der Umwelt an der Lebensqualität gleich wieder relativieren („relativ intakte Umwelt“; „dass die Umwelt einigermaßen okay ist“).

Die Erklärung hierfür ist nicht unbedingt, dass die Umwelt für die Lebensqualität sekundär ist. Vielmehr deutet das Antwortverhalten darauf hin, dass die Umwelt im alltäglichen Leben der Betroffenen keine auffallende Rolle spielt. Seit der Wiedervereinigung ist insbesondere in Ostdeutschland die Umwelt wesentlich sauberer geworden, so dass nur wenige der Befragten unmittelbar negative Beeinträchtigungen durch Umweltverschmutzung im Alltag erleben. Probleme die eher aus einer langfristigen Perspektive hochrelevant sind, wie ein hoher CO2-Austoß, sind im Alltag nicht spürbar. Ähnlich sieht es für den politischen Dauerbrenner Staatsverschuldung aus: Auch, wenn bestimmt zahlreiche Befragte zu dem Thema eine Meinung haben, so ist die unmittelbare Alltagsrelevanz doch nicht hoch genug, um „niedrige Staatsverschuldung“ tatsächlich als wichtig für die Lebensqualität in Deutschland anzuführen.

Auch die Erarbeitung von Innovationen ist nicht im Blick der allermeisten Menschen, die zwar die Endprodukte von Innovationen, wie zum Beispiel das Internet, gerne genießen, aber die mühsame Entstehung nicht erleben. Die Zeichenfolgen „fortschritt“ und Begriffe, die mit „techn“ in Verbindung stehen, wurden insgesamt nur etwa 40-mal angegeben, d. h. von etwa 2 Promille der Befragten.

Noch seltener werden die Themen Europa und Europäische Union angesprochen: Nur 16 Personen schreiben, dass Europa für sie wichtig ist im Leben; 11 von diesen Nennungen stehen im Kontext von Frieden – bezogen auf Frieden in Europa, aber auch Frieden zwischen Europa und dem Rest der Welt. In insgesamt 26 Antworten zur Lebensqualität in Deutschland wird Europa oder die EU angesprochen. Hier werden sehr verschiedene Themen angesprochen. In sechs dieser Antworten wird Europa nur als Vergleich herangezogen, um die Vorzüge Deutschlands gegenüber anderen europäischen Staaten herauszustellen. Gerade mal zwei Befragte führen die Freizügigkeit im Kontext von Europa als Faktor für die Lebenszufriedenheit an; eine einzelne Antwort spricht der EU einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität in Deutschland zu. Somit scheinen Europa und die Europäische Union – im Guten wie im Schlechten – nicht als unmittelbar bedeutsame Faktoren für die Lebenszufriedenheit in Deutschland wahrgenommen zu werden.

Die Grenzen von Bürgerdialogen

Das Regierungsprojekt „Gut leben in Deutschland“ und die in diesem Beitrag vorgestellten empirischen Erhebungen machen deutlich, dass es heutzutage gut möglich ist, den „Volkswillen“ bezüglich der Wichtigkeit gesellschaftlicher Ziele und dem Stand der Lebensqualität mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Methoden zu erfassen. Dabei wird deutlich, dass Methoden, die stärker in die Tiefe gehen, wie beispielsweise ausführliche Interviews, mit repräsentativeren Erhebungen verbunden werden sollten.

Ein Detail des Regierungsprojektes macht den Unterschied des Erkenntniswertes repräsentativer Erhebungen und einzelner Bürgerdialoge mit Interessengruppen besonders deutlich: Der Bürgerdialog der Bundeskanzlerin mit 60 zufällig ausgewählten SOEP-Befragten war völlig unspektakulär (siehe „Abiturienten, bis es kracht!“ in der FAZ vom 3. Juni 2015). Er erbrachte keine überraschenden Befunde und hat mutmaßlich politisch nichts bewegt. Der nachfolgende Bürgerdialog der Kanzlerin hingegen, mit Schülerinnen und Schülern, hat zum Austausch der Kanzlerin mit dem vielzitierten „Flüchtlingsmädchen“ Reem geführt. Dadurch bekam nicht nur das Schicksal der aus einer palästinensischen Familie stammenden und in Rostock lebenden Schülerin große Aufmerksamkeit, sondern das gesamte Thema „Flucht nach Deutschland“ rückte noch mehr in das Licht der Öffentlichkeit und die bei Vielen vorhandene positive Grundstimmung gegenüber Geflüchteten wurde wahrscheinlich verstärkt.

Alle angewandten Methoden machen auch deutlich, dass Themen, die keine unmittelbare Alltagsrelevanz haben – beispielsweise schwer direkt beobachtbare Probleme wie der Klimawandel oder die Staatsverschuldung, aber auch das Thema Europa – für die Mehrheit der Menschen keine Themen gespürter Wichtigkeit sind. Somit ist es fragwürdig, inwiefern der unmittelbare „Volkswille“ politisch ausschlaggebend sein kann bei Themen, die für weite Teile der Bevölkerung nicht unmittelbar spürbar sind, aber trotz allem langfristig wichtig für die Sicherung der Lebensqualität in Deutschland. Damit stößt das Format „Bürgerdialog“ – sowohl im tiefgreifenden Format von Einzelinterviews als auch in der repräsentativen Erhebung – notwendigerweise an seine Grenzen. Vergleichsweise moderne Erhebungsmethoden können als Instrumente der Bürgerbeteiligung Parlamente bei der Entscheidungsfindung informieren. Aber auch bessere Bürgerbeteiligung kann Parlamente nicht ersetzen.

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