„Spaltende, emotionale und negative Inhalte sind besonders erfolgreich“
Fünf Fragen an Philipp Lorenz-Spreen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zur politischen Meinungsbildung in den sozialen Medien

Auf den Punkt gebracht
- Eine systematische Auswertung von über 500 Studien zeigt, dass populistische Akteure mit emotionalen Inhalten mehr Sichtbarkeit und Stimmen gewinnen.
- Die Forschung nutzt computergestützte Methoden, um den Einfluss von Algorithmen und Netzwerkstrukturen auf die Verbreitung von Informationen zu messen.
- Der Digital Services Act fordert von großen Plattformen, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Zugang zu Daten zu gewähren, um systemische Risiken zu untersuchen.
Interview: Michaela Hutterer
Demokratien befinden sich weltweit in der Krise. Polarisierung oder Misstrauen gegen Institutionen haben zugenommen. Lässt sich das auf soziale Medien zurückführen?
Philipp Lorenz-Spreen: Ja, solche Zusammenhänge sind aus meiner Sicht nicht von der Hand zu weisen. Die negativen Entwicklungen von liberalen Demokratien, wie sie etwa das renommierte V-Dem Institut in Schweden dokumentiert, fallen zeitlich mit der weltweiten Nutzung großer kommerzieller Plattformen vor 15 Jahren zusammen. Zeitgleich veränderten sich auch andere Faktoren, etwa wachsende finanzielle Ungleichheit oder Migrationsbewegungen. Ich sehe darin aber kein Entweder-oder, sondern ein Zusammenwirken der Faktoren. Soziale Medien spielen eine verstärkende, vielleicht sogar entscheidende Rolle.
Lässt sich die Gefährdung von Demokratien durch soziale Medien belegen?
Für einen erstmaligen Überblick haben wir 2023 systematisch über 500 Studien zu diesem Thema und ihre Messmethoden ausgewertet; diese Untersuchung wurde auch gerade erst von einem unabhängigen Team wiederholt und bestätigt. Viele Studien zeigen, dass spaltende, emotionale und negative Inhalte auf Plattformen besonders erfolgreich sind. Zudem sind populistische Akteurinnen und Akteure mit diesen Inhalten besonders erfolgreich und erzielen mehr Sichtbarkeit als gemäßigte Vertreter; sie gewinnen zugleich auch Stimmen bei Wahlen. Umfragen zeigen auch, dass Menschen, die soziale Medien nutzen, polarisierter sind, politisch extremer und weniger Vertrauen in Institutionen haben. Manche Mechanismen zwischen diesen Faktoren müssen noch genauer verstanden werden, soziale Medien sind komplexe Systeme mit vielen Interaktionen. Alles in Allem sehe ich eine besorgniserregende Evidenzlage.
Wie lässt sich Gefährdung messen?
Die Digitalisierung hat nicht nur wichtige Fragen aufgeworfen, sondern auch neue Methoden zur Quantifizierung hervorgebracht. Wir verwenden computergestützte Messmethoden und analysieren etwa Echtzeit-Postings, um Verbreitung, Funktionsweise der Algorithmen oder den Einfluss von Netzwerkstrukturen zu messen. In Feldexperimenten verknüpfen wir solche Daten mit Meinungsumfragen oder Verhaltensdaten. Während viele Studien Korrelationen aufzeigen, ermöglichen es aufwendige Methoden mit verknüpften Daten sogar, Kausalitäten abzuleiten. Zum Beispiel stieg die Polarisierung an Orten dann, nachdem dort Zugang zu Breitband-Internet möglich wurde. Solche Studien gibt es jedoch noch zu wenige.
Ist es Aufgabe der Wissenschaft, die Debattenqualität auf Plattformen zu beobachten?
Ich sehe es als unsere Aufgabe an, Polarisierung, Diskursverschiebung und Gefahren für die Demokratie zu beobachten und sie auch in Bezug auf die Werte der liberalen Demokratie einzuordnen. Zudem nimmt der Digital Services Act die Wissenschaft bei diesem Thema besonders in die Verantwortung. Er sieht vor, dass in der EU große Plattformen und Suchmaschinen Forschenden Zugang zu Daten zur Untersuchung von „systemischen Risiken“, etwa die Verbreitung illegaler Inhalte, gezielter Falschinformation und Hass sowie Gefahren für Gesundheit und Minderjährige, zu gewähren haben. Aus diesen empirischen Ergebnissen Konsequenzen zu ziehen ist Aufgabe der Politik.
Wie klappt der Zugang zu den Daten in der Praxis? Zuletzt mussten sich Wahlbeobachter den Zugang vor Gericht erstreiten.
Hier ist die Wissenschaft klar im Nachteil, da der Zugang nur selten gewährt wird. Zugleich gibt es noch zu wenige Forschende, die solche Daten auswerten und über die Disziplinen und global koordiniert zusammenarbeiten. Hier braucht es mehr Ressourcen, Organisation und Expertise – neben einer konsequenten Umsetzung der Regeln für Plattformen.