„Ein kleiner blauer Kern spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Alzheimer-Demenz“

Martin Dahl im Gespräch über seine Forschung

23. April 2024

Ein kleiner blauer Kern in unserem Gehirn gilt als einer der ersten Orte, der Anzeichen für das mögliche spätere Auftreten einer Alzheimer-Demenz aufweist. Der blaue Kern spielt für die Produktion von neuronalen Botenstoffen zur Festigung von Gedächtnisinhalten eine wichtige Rolle. Lange Zeit galt seine Erforschung jedoch aufgrund seiner geringen Größe und seiner Lage als schwierig. Martin Dahl und sein Team kombinieren spezielle Bildgebungsverfahren und neuropsychologische Messungen, um diese wenig untersuchte Hirnregion zu ergründen. Im Interview spricht er über seine Forschung, die Kartierung des blauen Kerns und die Hoffnung auf frühe Interventionen.

Sie leiten das Projekt "Neuromodulation der Kognition über die Lebensspanne". Worin besteht der Fokus dieses Projekts? 
Martin Dahl: Wir untersuchen mit bildgebenden Verfahren, beispielsweise der Magnetresonanztomografie (MRT), wie neuronale Veränderungen im höheren Erwachsenenalter und bei neurodegenerativen Erkrankungen mit kognitiven Einbußen zusammenhängen. Uns interessiert besonders, welche Rolle bestimmte Neurotransmitter dabei spielen. Diese neuronalen Botenstoffe wie Dopamin und Noradrenalin helfen, Signale zwischen Nervenzellen zu übertragen, und sind wichtig für die Festigung der Verbindungen zwischen Nervenzellen. Dadurch sind sie an kognitiven Prozessen wie der Stabilisierung von Gedächtnisinhalten beteiligt.  

Welche Bedeutung haben diese Neurotransmitter in Zusammenhang mit altersbedingten Gedächtniseinschränkungen? 
Dahl:
Die typischen Symptome altersassoziierter Erkrankungen, wie der Gedächtnisverlust bei der Alzheimer-Demenz, treten im hohen Erwachsenenalter auf. Aber Untersuchungen an Gehirnen von Menschen, die in unterschiedlichen Altern verstorben sind, zeigen, dass die ersten Anzeichen von Alzheimer im Gehirn viel früher auftauchen können. Die ersten Anzeichen sind Protein-Verklumpungen, die sogenannten Tau-Ablagerungen, deren Vorläufer sich bereits im Alter von 30 Jahren speziell im blauen Kern feststellen lassen. Mit zunehmender Ausbreitung dieser Ablagerungen im Gehirn sterben die Nervenzellen im blauen Kern ab und das Neurotransmittersystem gerät aus den Fugen. Es gibt also eine wichtige Zeitspanne zwischen den frühen Veränderungen im Gehirn und den später auftretenden kognitiven Beeinträchtigungen. Wenn wir Methoden entwickeln bzw. verfeinern könnten, um diese frühen Veränderungen im Gehirn lebender Menschen zu sehen, könnten wir Krankheiten möglicherweise früher erkennen und in die Krankheitsentwicklung eingreifen.   

Sie konzentrieren sich auf die Erforschung des Locus coeruleus, des sogenannten blauen Kern. Warum? 
Dahl: Der blaue Kern liegt tief im Hirnstamm, und seine geringe Größe – kaum so groß wie ein Fingernagel – verhinderten lange Zeit seine Erforschung am lebenden Menschen. Seit kurzem ist uns dies mithilfe spezieller MRT-Sequenzen möglich. Der blaue Kern produziert wichtige Neurotransmitter, wie Noradrenalin und Dopamin, und reguliert durch ein weitverzweigtes Netz von Nervenfasern maßgeblich die Aktivität von Nervenzellen im gesamten Gehirn. 

Wenn wir Gedächtnisinhalte speichern, festigen sich auf neuronaler Ebene die Verbindungen zwischen Nervenzellen. Diese Änderungen verschwinden allerdings wieder nach einiger Zeit, sofern sie nicht stabilisiert werden. Die Neurotransmitter, die der blaue Kern produziert, erlauben diese neuronalen Veränderungen dauerhaft zu machen und spielen daher eine entscheidende Rolle in Gedächtnisprozessen. 

Welche Forschungsmethoden wenden Sie an? 
Dahl: Um kleine Hirnstammkerne wie den blauen Kern genau lokalisieren zu können, verwenden wir hochauflösende MRT, die uns erlaubt, dreidimensionale Bilder der Gehirnanatomie der Versuchspersonen zu erstellen. Für Messungen der Aktivität des blauen Kerns und dessen Einfluss auf andere Teile des Gehirns verwenden wir hingegen Verfahren wie Eyetracking – eine Technik, die die Pupillengröße misst – und Elektroenzephalografie (EEG) – eine Ableitung von Hirnströmen von der Kopfoberfläche. In einigen unserer Studien werden Versuchspersonen über viele Jahre hinweg ins Labor eingeladen, damit wir die Veränderungen in den neuronalen Messungen über die Zeit mit Verhaltensveränderungen in Verbindung bringen zu können. 

Gibt es bereits vorläufige Ergebnisse, die Sie teilen können?  
Dahl: In einer kürzlich veröffentlichten Studie zeigten wir, dass wir mittels wiederholter MRT-Messungen erfassen können, wie sich der blaue Kern im Alter verändert. Diese Veränderungen waren mit zunehmendem Alter stärker ausgeprägt, was auf ein Absterben der Zellen hindeutet, welche die Neurotransmitter produzieren. Die Studienteilnehmer*innen, die in den MRT-Messungen eine Abnahme des Signals des blauen Kerns zeigen, schnitten in späteren Gedächtnistests schlechter ab. In Folgeuntersuchungen versuchen wir festzustellen, ob diejenigen mit diesen Veränderungen im blauen Kern auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Alzheimer-Demenz entwickeln. Zudem konnten wir zeigen, dass die Hirnkerne, die Noradrenalin und Dopamin bilden, unterschiedlich an altersbedingten Gedächtniseinschränkungen beteiligt sind.  

Sie arbeiten an der „Locus Coeruleus Probability Map“. Können Sie uns das näher erläutern?  
Dahl: 
Der blaue Kern ist eine winzige Struktur tief im Hirnstamm, die nur wenige Millimeter groß ist. In unserer Forschung ist es wichtig, diesen genau zu lokalisieren, um so korrekte Rückschlüsse über dieses Neurotransmittersystem treffen zu können. Als wir jedoch anfingen, über den blauen Kern zu forschen, stellten wir fest, dass verschiedene wissenschaftliche Veröffentlichungen sich nicht einig waren, wo genau der blaue Kern im Gehirn ist und wie groß er ist. Das kann dazu führen, dass unterschiedliche Studien Ergebnisse liefern, die schwer zu replizieren sind. Deshalb haben wir zuerst unsere Kartierung vom blauen Kern veröffentlicht, damit auch andere Forschungsgruppen sie nutzen können (Dahl et al., 2019). In einem Folgeprojekt haben wir zudem viele veröffentlichte Kartierungen des blauen Kerns integriert, um so einen Konsens für die Größe und Lage dieser kleinen Hirnstammstruktur zu ermitteln – auch diese Ergebnisse teilen wir mit anderen Wissenschaftler*innen (Dahl et al., 2022Meta Mask). Es freut mich, dass diese von der wissenschaftlichen Community umfassend genutzt wird und als Grundlage für viele Studien anderer Forschungsgruppen dient. 

Mit welchen Einrichtungen oder Forschenden kooperieren Sie in Ihrem Projekt? 
Wir arbeiten seit vielen Jahren eng mit Professor Mara Mather zusammen, die an der University of Southern California zu neuronalen, emotionalen und kognitiven Veränderungen im hohen Erwachsenenalter forscht und eine Expertin für den blauen Kern ist. Während meines PostDocs habe ich auch ihr “Emotion & Cognition Lab" kennenlernen können. Derzeit führt es eine Studie durch, an der ich beteiligt bin und die untersucht, ob der blaue Kern und Alzheimer-assoziierte Marker durch eine sechsmonatige Verhaltensintervention beeinflusst werden können. 

Welche Pläne für zukünftige Studien verfolgen Sie?  
Dahl: Da der blaue Kern tief im Gehirn liegt, ist es schwierig, ihn direkt zu messen und seine Aktivität experimentell zu manipulieren. In laufenden experimentellen Studien versuchen wir daher, den blauen Kern durch die elektrische Stimulation eines peripheren Nervs zu aktivieren. Die langen Fasern dieses Nervs reichen vom Ohr bis in den Hirnstamm, also der Region, in welcher der blaue Kern liegt. Die Stimulation geschieht über eine Elektrode, die ähnlich wie ein Kopfhörer im Ohr getragen wird. Diese Messungen werden im MRT-Scanner durchgeführt und wir erhoffen uns somit mehr über die Rolle des blauen Kerns in Gedächtnisprozessen zu erfahren. So legen beispielsweise Ergebnisse aus Tiermodellen nahe, dass verschiedene Aktivitätsmuster des blauen Kerns unterschiedlich zur Ausbreitung der Tau-Ablagerungen beitragen könnten. 

Wie tragen ihre Forschungsergebnisse zum besseren Verständnis von neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz bei? Wie fügen diese sich in die bisherigen Erkenntnisse der Demenzforschung?   
Dahl: Kürzlich haben wir mit der University of Southern California zusammengearbeitet und eine Studie mit Menschen durchgeführt, die eine spezielle genetische Veränderung (Mutation) haben. Diese Veränderung führt zu einer sehr seltenen erblichen Form von Alzheimer-Demenz. Die Menschen, die diese Krankheit haben, zeigen die Alzheimer-Symptome schon früh im Leben, etwa zwischen 30 und 50 Jahren. Die genetische Veränderung spielt eine ursächliche Rolle bei der Entstehung dieser Krankheit. Das ermöglicht es uns, die Prozesse, die mit der Krankheit selbst und nicht nur mit anderen Altersprozessen zusammenhängen, getrennt zu untersuchen.  
 
Wir haben den blauen Kern bei Menschen mit dieser Alzheimer-Mutation und ihren Familienmitgliedern ohne die Mutation mittels MRT untersucht. Bei den Patienten mit der Mutation haben wir Anzeichen für eine Degeneration des blauen Kerns festgestellt. Dieser Rückgang war auch mit einer größeren Menge an Tau-Ablagerungen im Rest des Gehirns verbunden, was ein entscheidender Krankheitsmechanismus bei der Alzheimer-Demenz ist. Um unsere MRT-Ergebnisse besser zu verstehen, haben wir auch Gewebeproben von Menschen untersucht, die mit derselben Alzheimer-verursachenden Mutation gestorben sind, sowie von Personen ohne diese Mutation. In den Gewebeschnitten haben wir erneut festgestellt, dass der blaue Kern bei den Personen mit der Mutation degeneriert war, was unsere vorherigen MRT-Ergebnisse bestätigt. Zusammengefasst können wir sagen, dass der blaue Kern eine Rolle bei der Entwicklung der Alzheimer-Erkrankung spielt. 

Lassen sich aus Ihren Erkenntnissen bereits Interventionen ableiten, wie dem altersbedingten Gedächtnisverlust entgegengewirkt werden kann? 
Dahl:
In unserer Forschung sind wir zunächst daran interessiert, Veränderungen des blauen Kerns genau erfassbar zu machen und dessen Rolle bei der Gedächtnisentwicklung zu entschlüsseln. Kürzlich haben wir eine Förderung der BrightFocus-Stiftung erhalten, welche uns erlaubt blutbasierte Alzheimer-Biomarker in dieses Forschungsprogramm einzubeziehen. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für mögliche spätere Interventionen und Maßnahmen zur Behandlung der Alzheimer-Demenz. Es arbeiten jedoch auch schon andere Forschungsgruppen an klinischen Studien, in denen der blauen Kern experimentell aktiviert wird. Damit wollen sie herausfinden, ob eine solche Stimulation sich positiv auf die Kognition auswirkt (cf. ClinicalTrials.gov NCT04908358). Zudem wird derzeit in pharmakologischen Studien getestet, welchen Einfluss eine medikamentöse Manipulation der Neurotransmitter des blauen Kerns auf die Alzheimer-Entwicklung hat (z.B. https://doi.org/10.1093/brain/awab452). 

Martin Dahl
Martin Dahl leitet seit 2022 das Projekt Neuromodulation der Kognition über die Lebensspanne (LINE) am Forschungsbereich Entwicklungspychologie. Sein Forschungsinteresse gilt den Auswirkungen der alters- und krankheitsbedingten Degeneration neuromodulatorischer Systeme auf die Kognition. 

 

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