Wir brauchen neue digitale Kompetenzen
Anastasia Kozyreva erklärt im Interview, mit welchen Strategien man mehr Kontrolle über die eigene Online-Mediennutzung gewinnen kann
In Deutschland verbringen Menschen laut Statista rund fünfeinhalb Stunden täglich online. Viele merken zwar, dass ihnen das nicht gut tut, schaffen es aber nicht, den Computer auszuschalten oder das Handy wegzulegen. Forschende aus Berlin, Stanford und Bristol haben eine Strategie erarbeitet, die das erleichtern soll. Anastasia Kozyreva, Mitautorin und Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung erklärt, wie man damit mehr Kontrolle über die eigene Online-Mediennutzung gewinnen kann.
Frau Kozyreva, warum verbringen wir so viel Zeit mit den sozialen Medien und fallen so leicht auf falsche Nachrichten oder Sensationsmeldungen herein?
Anastasia Kozyreva: Wir Menschen sind soziale Wesen, und seit jeher ist es lebenswichtig für uns, Informationen aus unserer Gemeinschaft zu bekommen und weiterzugeben. Negative oder auch sehr emotionale Neuigkeiten wecken besonders unsere Aufmerksamkeit, weil sie uns vor potenziellen Gefahren warnen oder uns einen Hinweis darauf geben, wenn andere aus unserer Gruppe Hilfe brauchen. Das hat Jahrtausende lang gut funktioniert. Aber seit wenigen Jahren leben wir, was die Informationen betrifft, in einer völlig neuen Welt. Online-Medien und vor allem die SocialMedia-Plattformen überfluten uns mit Nachrichten. Wir sollen möglichst viel Zeit auf den Plattformen oder Webseiten verbringen, damit die Anbieter möglichst viel Werbung schalten können. Dafür nutzen sie die alten Mechanismen, mit denen sie unsere Aufmerksamkeit erregen. Wir hatten keine Zeit, uns daran anzupassen. Deswegen brauchen wir neue digitale Kompetenzen, die den Herausforderungen in der digitalen Welt gerecht werden. Meine Kollegen und ich sind der Ansicht, dass kritisches Ignorieren dort eine genauso wichtige Kompetenz ist wie kritisches Denken.
Wie funktioniert kritisches Ignorieren?
Dazu kann man drei Strategien anwenden. Die erste ist self nudging. Das heißt, ich gestalte meine Umgebung so, dass ich Vorsätze, die ich gefasst habe, auch wirklich umsetzen kann. Das funktioniert in vielen Lebensbereichen. So können wir zwar die Lebensmittelauswahl in den Supermärkten nicht beeinflussen, aber wir können wählen, welche Lebensmittel wir zu Hause haben wollen. Und auch dort können wir unser Verhalten über Anreize steuern. Wer zum Beispiel weniger Süßigkeiten und mehr Obst essen möchte, kann die Süßigkeiten ganz weit oben in den Schrank räumen und sich eine Schale Obst auf den Tisch stellen. Nur wenn man sich bewusst mal ein Stück Schokolade gönnen will, steigt man auf den Stuhl und holt sie aus dem Schrank.
Genau das lässt sich auch auf die digitale Welt übertragen. Wir können und sollten aktiv entscheiden, wie viel Zeit wir wirklich mit unseren Smart Phones, Tablets oder am Computer verbringen möchten. Die Geräte bieten ja die Möglichkeit, das zu kontrollieren und zum Beispiel Zeitlimits einzurichten oder uns zu erinnern, dass wir ab einer bestimmten Zeit abends das Handy weglegen. So bleibt mehr Zeit für Offline-Aktivitäten, die das Leben lebenswert machen, zum Beispiel Zeit mit Familie und Freunden, oder für Dinge, die einem wirklich Spaß machen. Und wenn man nicht so oft vom Handy abgelenkt wird, kann man sich auch besser auf die Arbeit oder aufs Lernen konzentrieren,.
In der Zeit, in der ich trotzdem online bin, erreichen mich allerdings schon ziemlich viele Nachrichten. Wie kann ich herausfinden, welche wirklich stimmen und welche fake news sind?
Auch da gibt es eine Strategie, nämlich lateral reading, also sozusagen seitwärts lesen. Normalerweise lesen wir eine Webseite von oben nach unten. So lernen wir es ja in der Schule: einen Text kritisch zu prüfen, indem man ihn ganz genau von Anfang bis Ende durchgeht. Faktenchecker gehen anders vor: Sie öffnen im Browser einen weiteren Tab – also seitwärts – und googeln, wer hinter der Webseite steckt. Es gibt erstaunlich viele Seiten, die sehr seriös wirken, hinter denen aber Interessengruppen zum Beispiel aus der Wirtschaft stehen, die auf diese Weise versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Dauert das Prüfen nicht viel zu lange?
Nein, oft findet man schon nach wenigen Minuten heraus, ob eine Quelle vertrauenswürdig ist. Das geht in der Regel deutlich schneller, als wenn man versucht, eine Webseite kritisch zu lesen und aus den Inhalten zu erkennen, ob sie seriös ist oder nicht. Lateral reading funktioniert übrigens genauso für Videos auf YouTube oder TikTok: Wenn es um politische oder wissenschaftliche Inhalte geht, sollten wir auch da prüfen, wer dahinter steht.
Heißt das, wir sollten grundsätzlich misstrauisch sein?
Bei Quellen, die wir nicht zuordnen können, ist das tatsächlich ratsam. Umgekehrt sollten wir aber auch im positiven Sinne überlegen, wem wir vertrauen können. Gerade hier in Europa gibt es viele vertrauenswürdige Medien und Institutionen: die öffentlich-rechtlichen Sender oder die großen Tageszeitungen. Wichtig ist, dass die Quellen von Lobbyisten oder populistischen Bewegungen unabhängig sind.
Ein großes Problem in Chats oder den sozialen Medien ist hate speech: rassistische oder sexistische Kommentare, Beleidigungen, Bedrohungen. Viele Menschen denken, sie sollten eingreifen, wenn sie so etwas lesen. Ist das sinnvoll?
Nein, auf keinen Fall! Denn genau das wollen diese Leute erreichen, die so etwas verbreiten: Sie wollen provozieren und fühlen sich bestätigt, wenn sie darauf eine Reaktion kriegen. Hier gilt die alte Regel: don’t feed the trolls! Es ist besser, die Trolle, also die Provokateure, zu ignorieren, wenn möglich zu blocken und den Betreibern der Plattform den Vorfall zu melden. Es geht hier auch darum, uns selbst zu schützen: Wenn man sich auf Diskussionen mit solchen Leuten einlässt, kann das wirklich schädlich sein für die Psyche und für unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Die Betreiber der Plattformen sollten allerdings unbedingt gegen Trolle vorgehen und hate speech oder andere schädliche Inhalte entfernen.
Für wen haben Sie Ihre Empfehlungen entwickelt?
Das Thema geht uns wirklich alle an, egal ob jung oder alt. Ich fände es aber besonders wichtig, diese Strategien an Schulen zu vermitteln. Sie sind einfach zu lernen und sehr wirkungsvoll. Mit dem kritischen Ignorieren gibt man den jungen Leuten die Möglichkeit, ihre Aufmerksamkeit für Online-Inhalte bewusst und gezielt einzusetzen.
Vielen Dank!
Interview: Mechthild Zimmermann