Virus trifft Immunsystem - Pandemische Metaphern im Jahr 2020
by Bettina Hitzer
Metaphern spielen eine wesentliche Rolle dafür, wie Krankheitsgefahr und Schutzmaßnahmen erfahren und emotional belegt werden. Viele der Metaphern, die noch heute in der Konfrontation mit Krankheitserregern, Ansteckung und Immunisierung benutzt werden, gehen auf das späte 19. Jahrhundert zurück. Die Bakteriologie trat zu dieser Zeit ihren Siegeszug (auch eine Metapher!) mit dem Lehrsatz an, dass jede Krankheit eine einzige und eindeutig bestimmbare Ursache habe. Die Begegnung von Bakterium und Körper wurde von den frühen Bakteriologen in der Metapher von Invasion und Kampf gefasst. Diese Metapher griff zeitgenössische gesellschaftliche Deutungsmuster auf, hatte aber auch ihrerseits großen Einfluss darauf, wie „Gefahren“ für Nation und Volk gedeutet und bekämpft wurden – ob nun unter rassistischen oder speziell antisemitischen Vorzeichen. Die Vorstellung, dass Bakterien, einschließlich der erst später sichtbar gemachten Viren, Krankheitserreger seien, die wie eine gegnerische Armee in den menschlichen Körper eindringen, um ihn anzugreifen oder sogar zu zerstören, prägte auch das wissenschaftliche Verständnis von der menschlichen Immunabwehr (!).
Der Virologe Frank Macfarlane Burnet, der die „Spanische Grippe“ als Medizinstudent in Melbourne miterlebt hatte, formulierte Mitte des 20. Jahrhunderts eine folgenreiche Definition, nach der das Immunsystem ein klar begrenztes Selbst („self“) sei, dessen Wirken auf der permanenten Unterscheidung zwischen fremd ("non-self") und eigen ("self") beruhe. Die Anthropologin Emily Martin hat gezeigt, wie diese Metapher in den 1980er Jahren sowohl die Sprache der Immunolog*innen als auch die Erfahrung von AIDS-Kranken geprägt hat. Im Aufeinandertreffen mit dem Virus ist diese zunächst klar gezogene Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst unscharf geworden. Denn das Virus ist selbst eine Entität am Grenzbereich zwischen Leben und Nicht-Leben. Zur Reproduktion seiner selbst ist es auf die Zellen eines anderen Lebewesens angewiesen, dringt in sie ein und "benutzt" sie, indem es sein Erbmaterial in diese Zelle einbaut. Wegen dieser Eigenschaften ist das Virus selbst zur postmodernen Metapher für Infiltration und Subversion geworden, die mit einer Art Guerilla-Taktik das Selbst unterwirft oder zerstört. So wurde es in den frühen 1980er Jahren als Computervirus zur weithin gebrauchten Metapher in der digitalen Welt. Schon lange vor Corona verbildlichte das Virus darum die "latente Gefahr, dass sich etwas an unseren Grenzen zu schaffen macht" (Brigitte Weingart), ohne dass es die"absolut sichere Möglichkeit mehr gibt, den Unterschied zwischen dem Selbst und dem bedrohlichen Anderen, also den Unterschied zwischen Freund und Feind, zu benennen" (Peter Knight).
Politiker wie Donald Trump, Viktor Orbán oder Emmanuel Macron haben versucht, die durch das Virus verwischte Grenze mit einer aggressiven Kampfrhetorik und zum Teil auch einer Externalisierung der Gefahr wiederherzustellen und damit auch die von Mark Siemons konstatierte "zivilisatorische Kränkung" ungeschehen zu machen. Diese Rückkehr zum ursprünglich bakteriologischen Freund-Feind-Schema birgt nicht nur die Gefahr, innergesellschaftliche Gräben zu vertiefen und nationalistische Abgrenzungen zu radikalisieren. Sie verhindert möglicherweise auch, dass angemessene Maßnahmen zur Einhegung des Coronovirus getroffen werden. Denn in der Mikrobiologie und Virologie werden zunehmend zwei Grundpfeiler dessen in Frage gestellt, was das Virus und das Immunsystem zu mächtigen biopolitischen Metaphern gemacht hat.
Dies ist, erstens, die Definition des Immunsystems als Mechanismus zur Unterscheidung von fremd und eigen. Die Entdeckung der Autoimmunität, d.h. der gegen eigene Zellen gerichteten Aktivität des Immunsystems, ebenso wie die Transplantationsbiologie weisen bereits seit längerem darauf hin, dass Immunreaktionen nicht ausreichend mit einer strikten Dichotomie zwischen eigen und fremd erklärt werden können. Zweitens erscheint es zunehmend fraglich, ob Viren grundsätzlich und per definitionem pathogen sind, so wie es die lateinische Etymologie des Begriffs suggeriert (vira = Gift). Denn Virolog*innen haben immer mehr Hinweise darauf gefunden, dass es im Tier- wie Pflanzenreich eine große Zahl an sogenannten "mutualistic viruses"gibt, also solche Viren, die in einer Wechselbeziehung mit Tier oder Pflanze leben, die für beide Vorteile mit sich bringt. So ist etwa die menschliche Verdauung ohne das sogenannte Mikrobiom, zu dem eine substantielle Zahl von Viren gehört, nicht möglich. Diese "innige" und keineswegs auf das Mikrobiom beschränkte Verbindung zwischen Mensch und Virus reicht weit zurück. Darum sind circa 50 % des menschlichen Erbguts viraler Herkunft. Die "Infektion" mit Viren aller Art ist demzufolge nicht der Ausnahme-, sondern der Normalzustand menschlichen Lebens. Ob ein Virus allerdings für einen Organismus wie den menschlichen gut oder schlecht ist, hat nach Ansicht vieler Virolog*innen weniger damit zu tun, dass das Virus fremd ist oder welche intrinsische Eigenschaften es hat, sondern damit, wie es unter welchen Umständen mit diesem Organismus interagiert. Diese ökologische Sichtweise des Aufeinandertreffens von Virus und Immunsystem eröffnet nicht nur neue Therapieoptionen gegenüber Krankheiten. Sie lenkt auch den Blick darauf, dass manche nach dem überholten Modell der Kriegführung vertretene Maßnahmen zur "Bekämpfung" von Erregern das anzustrebende Gleichgewicht zwischen Mensch und Virus nur weiter aus dem Lot bringen und neue Gesundheitsstörungen produzieren. Demgegenüber stellt die ökologische Sichtweise die Frage, wie Lebensumstände und Umwelt so gestaltet werden können, dass das Coronavirus nicht mehr oder zumindest weniger Schaden zufügt. Schließlich kann diese neue Perspektive auf die Begegnung von Virus und Immunsystem dazu beitragen, die Bedrohung durch das Coronavirus und die zu treffenden Schutzmaßnahmen anders wahrzunehmen. Dies mag helfen, auf längere Sicht ohne große Angst oder verantwortungslose Sorglosigkeit gesund mit dem Virus zu leben.