Nichts gelernt? Ein zeitgeschichtlicher Vergleich der Emotions- und Politikkultur bei AIDS/HIV und Covid-19
von Anja Laukötter
Die Berichterstattung über den Corona-Virus überschlägt sich seit einigen Wochen. Die neue Pandemie bestimmt nicht nur die Nachrichten, sondern bringt auch zahlreiche Sonderberichterstattungen hervor. In diesen kommen regelmäßig Politiker zu Wort, die vor einer Panikhaltung warnen. Epidemiologen und Virologen verschiedenster gesundheitlicher Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut geben meist sachliche Präventionsempfehlungen. Die Bevölkerung wird bei ihren "Hamsterkäufen" über ihre aktuellen Sorgen und zukünftige Alltagsstrategien befragt. Flankiert werden diese Berichte mit Verweisen auf Diskriminierungen von Menschen mit (vermeintlicher) asiatischer Herkunft und Verschwörungstheorien über die Entstehung und Verbreitung des Corona-Virus, die trotz (oder gerade wegen) ihrer Basis von Vorurteilen und Fehlinformationen in den sozialen Netzwerken "viral" gehen. Insgesamt fangen die Medien eine emotionale Atmosphäre ein, die zwischen Angst- und Beruhigungsnarrativen schwankt.
Fokussieren wir uns auf die Anfänge der Krankheitsausbreitung, ist diese Oszillation zwischen Angst und Beruhigung allerdings nichts Neues. Denn wenn wir auf die jüngste deutsch-deutsche Zeitgeschichte zurückblicken, ergeben sich deutliche Parallelen zur AIDS/HIV-Geschichte der frühen 1980er Jahre, obwohl sich die Infektionen mit dem Humanen Immundefizienz-Virus und dem Covid-19-Virus nicht nur in ihren Ansteckungswegen und Krankheitsverläufen unterscheiden, sondern auch in der Zeitlichkeit ihrer Verbreitung. Während wir es heute mit einem Phänomen zu tun haben, dessen Halbwertszeit bislang in Monaten, Wochen und Tagen zu liegen scheint, verlief die damalige erste Entdeckung der Krankheit, die Ausbreitung, die Entwicklung von wirkungsvollen Bekämpfungsstrategien und die ersten Erfolge in der Eindämmung über den Zeitraum von Jahren. Doch trotz dieser vielfältigen Unterschiede scheinen sich bestimmte Muster eines emotionalen Klimas in der Öffentlichkeit wie auch des politischen Umgangs damit zu wiederholen.
Dies betrifft den Versuch, die jeweilige Erkrankung möglichst lange über bestimmte Personengruppen zu vereindeutigen und damit von der jeweils eigenen wegzudenken. Denn es war bereits der 5. Juni 1981, an dem die amerikanische Gesundheitsbehörde, das Center for Disease Control and Prevention (CDR) eine Häufung einer seltenen Form von Lungenentzündung bei homosexuellen Männern beschrieb. Ende Mai 1982 erreicht die bundesrepublikanische Öffentlichkeit die Debatte. Von einer neuen, tödlichen, um sich greifenden und vor allem mysteriösen Krankheit war die Rede, die zunächst als "Gay Related Immunodeficiency Syndrome" (GRIDS) oder umgangssprachlich als "Gay-Cancer" bezeichnet wurde. Diese Identifizierung der Krankheit mit einer sexuellen und ge-schlechtlichen Identität löste kurze Zeit später das neutralere Akronym "Acquired immunodeficiency syndrome" (AIDS) ab. Zudem wurden weitere sogenannte "Hauptrisikogruppen" definiert. Aber gleichzeitig wurde das Bedrohungsszenario z.B. in Deutschland durch metaphorische und emotional aufgeladene Begrifflichkeiten forciert. So bezeichnete z.B. das medizinische Fachjournal Das Ärzteblatt AIDS als "Epidemie" mit unbekanntem Ausmaß. Jedenfalls blieb die sexuelle Orientierung über Jahre das Hauptcharakteristikum von AIDS, zudem die Basis für vielfache Diskriminierungen gegen Homosexuelle. Die Medien verstärkten diese vermeintlich eindeutige Identifizierung der Krankheit durch entsprechende Berichte und Abbildungen von vornehmlich männlichen Körpern in depressiver Pose.
Eine ähnliche Entwicklung ließ sich bei der aktuellen Corona-Infektion beobachten. Nachdem bereits Anfang Dezember 2019 in Wuhan gehäuft Lungenentzündungen aufgetreten waren, dauerte es bis zum 31. Dezember, bis die chinesischen Behörden die WHO informierten. Während im Verlauf des Januars die offizielle Zahl der Infizierten in China schnell auf über 8.000 anwuchs, stieg die Zahl der Infizierten außerhalb Chinas zunächst gering. In Deutschland gab es nur eine Infektion samt einigen Folgeinfektionen, die aber eingedämmt werden konnten. Während dieser ganzen Zeit wurde im Zusammenhang mit der Infektion fast ausschließlich aus China berichtet. Bilder zeigten die dortige Bevölkerung beim gesichtsverbergenden Schutzmasken oder dem vermummten Desinfizieren öffentlicher Räume. Offensichtlich wurden die Covid-19-Infektionen anfangs ausschließlich als Problem von anderen dargestellt und empfunden – auch als es schon längst Ansteckungsfälle in Deutschland gab.
Doch auch, als bei AIDS/HIV im weiteren Verlauf allmählich klar wurde, dass die Infektion jeden betreffen konnte, dauerte es geraume Zeit bis wirksame Schutzmechanismen flächendeckend umgesetzt wurden. Im September 1983, also zwei Jahre nach der Entdeckung der Krankheit gründeten Vertreter aus der Schwulenbewegung, die sich für die Unterstützung von Infizierten sowie gegen die Diskriminierung von Homosexuellen einsetzten, nach dem US-amerikanischen Vorbild die Selbsthilfeorganisation Deutsche Aids-Hilfe e.V. Forciert durch diese und ähnliche Bürgerinitiativen gab es dann auch auf politischer Ebene Gespräche zwischen Experten und Vertretern des Ge-sundheitsministeriums und Debatten im Plenarsaal des Bundestages. Dabei wurde jedoch Begriffe wie "Lustseuche" weiterhin gerne verwendet, womit rhetorisch und metaphorisch an Ängste vor Geschlechtskrankheiten angeknüpft wurde, die das gesamte 20. Jahrhundert durchziehen. Zeitgleich kursierten in Westdeutschland der 1980er Jahre verschiedenste Gerüchte über die Herkunft, den Verlauf und das "Ziel" der Krankheit. Einige waren religiös motiviert und sahen in AIDS/HIV eine "Heimsuchung Gottes", andere sahen politisch motivierte "Geheimmächte" am Werke. Auch in der DDR, in der die öffentliche Debatte über AIDS/HIV lange unter Verschluss gehalten wurde, verbreiteten sich zahlreiche Verschwörungstheorien. Diese dokumentieren sich in vielen Briefen der DDR-Bürger/-innen an die zuständigen Gesundheitsbehörden. Es dauerte jedenfalls bis 1985, als AIDS/HIV auch in der heterosexuellen Gesellschaft angekommen war und die Zahl der Infizierten stieg, bis sich der Blick von sogenannten "Risikogruppen" auf das individuelle "Risikoverhalten" verschob. Entsprechend setzte die nun amtierende Gesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) auf einen offenen und solidarischen Umgang mit AIDS/HIV in der Gesellschaft, was sich auch in ihrer 1987 erschienenen Publikation "AIDS: Wege aus der Angst" äußerte. Jetzt wurde auch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die dazu passende Aufklärungskampagne "Gib AIDS keine Chance" mit der zentralen Aufforderung zum "Safer Sex" gestartet. Dieser Ansatz blieb aber umstritten, vor allem im Süden des Landes. So forderte Peter Gauweiler, der Staatssekretär des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (beide CSU) im selben Jahr einen strikten Kurs in der AIDS-Bekämpfung und benannte dafür die rigiden Regelungen innerhalb der DDR u.a. mit Meldepflichten und strengen Verhaltensvorschriften für HIV-Infizierte als vorbildlich. In der DDR wurden erst im Dezember 1988 einige Medien der "Gib AIDS keine Chance"-Kampagne der BZgA auch vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden übernommen, womit auch die darin genannten Präventionsmaßnahmen in der DDR Verbreitung fanden. Kondome blieben jedoch Mangelware.
Seitdem sich das Corona-Virus seit Februar auch zunehmend weltweit, in Europa und in Deutschland verbreitet, ist die emotionale Wirkkraft der vielfach dargestellten Ansteckungsketten angestiegen. So ist deutlich geworden, dass die Mobilität des heutigen „Durchschnittsdeutschen“ samt Besuch von Massenveranstaltungen (z.B. Besuch des Karnevals, dann Wochenendreise in die Niederlande, mehrtägige Besuche in "Tropical Island" sowie Arbeitsaufenthalte in Italien) epidemiologisch gesehen ein Problem darstellt. Wichtige Schutzmittel wie Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel waren alsbald deutschlandweit ausverkauft, auch für zahlreiche Gesundheitseinrichtungen. Doch erst am 3. März, einen Monat nachdem die Infektion in Deutschland angekommen war, zwei Monate nach deren Kenntnisnahme durch die WHO und der Mangel an Schutzkleidung u.a. von verschiedensten Hausärzten medial angesprochen wurde, beschloss der gemeinsame Krisenstab der Bundesministerien des Inneren und für Gesundheit die Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung. Staatliche Einschränkungen der Mobilität wurden hingegen weiterhin so weit wie möglich vermieden. So durften beispielsweise auch noch am 7. und 8. März Fußballspiele vor bis zu 75.000 Zuschauern ausgetragen werden.
Die hier vergleichend vorgestellten emotionalen Atmosphären zur gegenwärtigen Corona-Virus- und zur frühen AIDS/HIV-Geschichte der 1980er Jahre scheinen sich in einigen Aspekten zu zitieren. Die Nutzung von Kondomen gilt mittlerweile als eines der effektivsten Mittel zur Verhütung einer Ansteckung mit AIDS/HIV. Dennoch dauerte es Jahre, bis sich diese Erkenntnis flächendeckend verbreiten konnte. Auf politischer Ebene ließe sich aus dieser historischen Perspektivierung der Schluss ziehen, dass frühzeitig organisierte, umfassende und emotionale Barrieren überwindende bzw. entsprechende Bedürfnisse ernstnehmende Präventionsmaßnahmen eine wichtige Beruhigungs- und Überlebensstrategie für die Bevölkerung ist. Aus zivilgesellschaftlicher Sicht wird deutlich, dass politische Initiativen oftmals verlangsamt starten, die Bürger/innen dagegen selber solidarisch aktiv werden können. Die Historizität der Ängste zu verstehen, kann zudem beim Management der eigenen Gefühle im Umgang mit den Infektionsgefahren helfen, besonders wenn die Ansteckungswege wie gegenwärtig nicht mehr nachvollziehbar sind.