„Das sind wir“ - Fragen an Stefan Appelhoff

10. April 2024

Unser Institut hat über 300 Mitarbeitende. Doch das ist nur eine Zahl. Wer sind die Menschen an unserem Institut? Womit beschäftigen sie sich und was treibt sie an? In unserem Format „Das sind wir“ beantworten Kolleg*innen Fragen zu ihrer Arbeit und ihrer Motivation.

Anlässlich des internationalen Frauentags am 8. März 2023 haben wir die Reihe "Das sind wir" gestartet. Mittlerweile haben wir 13 Wissenschaftler*innen porträtiert. Wir knüpfen daran an und stellen den Wissenschaftler Stefan Appelhoff aus der Forschungsgruppe Adaptive Gedächtnis- und Entscheidungsprozesse vor. Im vorigen Artikel unserer Reihe haben wir Lisa Oswald aus dem Forschungsbereich Adaptive Rationalität vorgestellt.

Du beschäftigst Dich in der Forschungsgruppe Adaptive Gedächtnis- und Entscheidungsprozesse unter anderem mit der Entscheidungsfindung beim Menschen. Was fasziniert Dich an dem Thema? 

Entscheidungen sind etwas sehr Grundlegendes. Menschen treffen sie täglich zu Tausenden -- ob bewusst oder unbewusst. Entscheidungen sind außerdem extrem unterschiedlich: Angefangen beim (unbewussten) Entscheiden darüber, welche Farbe ein Ampellicht hat und was die zugehörige Bedeutung ist, bis hin zu größeren (oft bewussten) Lebensentscheidungen, beispielsweise ob man eine Promotion anstreben möchte. Mir gefällt diese große Bandbreite an Möglichkeiten. In meiner eigenen Forschung interessiert mich, wie Menschen stückweise aufkommende Hinweise gewichten und zusammenfassen, um dann eine finale Entscheidung zu treffen. Beispiele für diese Hinweise finden sich in alltäglichen Situationen, zum Beispiel beim Entscheiden, ob wir einen Regenschirm mitnehmen sollten. Hierbei können Hinweise aus dem Wetterbericht, ein Blick nach draußen und die Erinnerung an einen vorherigen regnerischen Tag ohne Schirm ausschlaggebend sein. Die Hinweise und die "finalen Entscheidungen" in meiner Forschung sind allerdings sehr oft ökonomischer Natur ("Mit welcher Entscheidung kann man einen größeren Bonus in diesem Experiment verdienen?"). Aber genau dieser Prozess der schrittweisen Annäherung an eine Entscheidung fasziniert mich auch bei allen anderen möglichen (Lebens-) Entscheidungen.

Könntest Du Deine Ergebnisse mit einem Beispiel etwas genauer erklären?

Wenn Menschen mehrere Zahlen schrittweise in kurzer Zeit genannt bekommen und diese zusammenfassen sollen, bemerkt man oft zwei verschiedene Tendenzen: Extreme Zahlen (sehr niedrig oder sehr hoch) werden relativ zu "mittleren" Zahlen entweder überbewertet oder unterbewertet. Das heißt, die Zahlen werden nicht linear zusammengefasst, sondern mit einer der zwei Strategien (überbewerten oder unterbewerten der Extreme). Wenn beispielsweise der Mittelwert in einer Reihe von Zahlen, wie etwa 4, 5, 6, 9 errechnet werden soll, würden die meisten Menschen dazu neigen die Zahl 9 entweder überzubewerten und dementsprechend höher zu gewichten, wodurch der Durchschnitt höher ausfällt als erwartet oder zu unterschätzen und weniger stark zu gewichten, wodurch der Durchschnitt kleiner ausfällt. Interessant hieran ist, dass beide Strategien zwar vom mathematisch optimalen Weg des linearen Zusammenfassens abweichen, aber in konkreten Entscheidungsszenarien trotzdem optimal sein können. Grund hierfür ist, dass die neuronalen Signale, mit denen Menschen arbeiten, "verrauscht" sind. Weiterhin bildet die menschliche Aufmerksamkeit (und andere "neuronale Ressourcen") einen natürlichen Flaschenhals, der eine mathematisch optimale (lineare) Strategie holprig und wenig robust werden lässt. In unseren neuesten Studien haben wir gezeigt, dass die genaue Wahl der Strategie (überbewerten vs. unterbewerten von Extremen) vom Kontext und der Schwierigkeit der Aufgabe abhängt. Außerdem haben wir einen Zusammenhang mit neuronalen (EEG) Signalen hergestellt.

Was motiviert Dich in Deinem Arbeitsalltag?

Ich empfinde es als sehr motivierend und bereichernd, wenn meine Beiträge konkret die Arbeit von Anderen vereinfacht oder überhaupt erst ermöglicht. Das ist auch der Grund, wieso ich neben meiner Arbeit in der Grundlagenforschung auch einen großen Schwerpunkt auf Beiträge zu Free Open-Source-Software und Datenstandards setze: So kann, zum Beispiel, eine Woche Arbeit an einer Codefunktion in einer Software dafür sorgen, dass dutzende andere Forscher noch eine geraume Zeit danach viel Zeit und Aufwand einsparen, weil sie genau diese Codefunktion gebraucht haben, beispielsweise zur Bearbeitung, Veranschaulichung oder Interpretation ihrer Daten. Seit 6 Jahren arbeite ich an MNE-Python, einer Software für die Analyse von MEG und EEG-Signalen, sowie an BIDS, einem Datenstandard für Neurowissenschaften. Es ist für mich eine große Freude, ein Teil von diesen größeren Bewegungen zu sein -- denn anders als in der Grundlagenforschung kann man hier den Einfluss der eigenen Arbeit schon deutlich schneller und konkreter sehen. Das gleiche Prinzip gilt für mich natürlich auch, wenn ich Kollegen konkret bei ihrer Arbeit helfen kann.

Wann hast Du festgestellt, dass Du in die Wissenschaft gehen möchtest und was würdest Du Deinem jüngeren Ich zu Beginn der wissenschaftlichen Karriere raten?

Für mich ist das "in die Wissenschaft gehen" ein Prozess, und keine Ja/Nein Entscheidung. Der Prozess hat damit begonnen, mich 2012 für einen Bachelor und dann 2015 für ein Masterstudium jeweils mit Schwerpunkt Forschung einzuschreiben. Am Ende meines Masterstudiums 2017 habe ich dann gemerkt, dass ich Lust darauf habe, noch eigenständiger und tiefer in die Forschung zur kognitiven Neurowissenschaft einzutauchen. Jetzt, nach der Verteidigung meiner Dissertation in 2022, arbeite ich als Postdoc weiter als Forscher.  Auch wenn meine bisherigen Entscheidungen den Weg in die Wissenschaft ebneten, halte ich mir für die Zukunft alle Optionen offen. Für mich ist es wichtig, neugierig zu bleiben und einen Ort zu finden, an dem ich meine Interessen verfolgen, und meine Fähigkeiten gewinnbringend einsetzen kann. Ob in der Wissenschaft oder anderswo spielt da eine untergeordnete Rolle. Meinem jüngeren Ich würde ich raten, genau bei diesem Prinzip zu bleiben: Orte, Kollegen, und Aufgaben zu finden, die erfüllend sind. Egal ob in der Wissenschaft oder anderswo.

Was schätzt Du an der Max-Planck Community?

Über die letzten 6 Jahre am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung habe ich vor allem meine Kollegen schätzen gelernt. Mir gefällt, dass wir uns bedingungslos unterstützen, und dass keine "Ellbogengesellschaft" existiert. Es ist eine große Bereicherung, dass bei uns am Institut Menschen aus so vielen unterschiedlichen Disziplinen zusammenkommen. So kommen regelmäßig sehr spannende Austausche zustande. Außerdem bin ich mir des Privilegs bewusst, mit sehr vielen Ressourcen und ohne Lehrverpflichtungen meiner Forschung nachgehen zu können! 

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