Unstatistik des Monats: „Polen sind fleißiger als Deutsche“

28. November 2012

Als Unstatistik des Monats bezeichnen die Urheber der gleichnamigen Aktion die Aussage: „Polen sind fleißiger als Deutsche“, geäußert von Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich eines Treffens mit den Staatsoberhäuptern Italiens und Polens am vergangenen 19. November in Neapel.

Dieser Satz mag als Kompliment hingehen, nicht aber als aussagekräftige Statistik. Verwendet man die jährliche Arbeitszeit je Erwerbstätigen, wie sie beispielsweise von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ausgewiesen wird, ist Joachim Gauck insofern korrekt, als die in dieser Erhebung erfassten Polinnen und Polen pro Jahr im Durchschnitt 1.937 Stunden arbeiten, die in dieser Statistik registrierten Deutschen dagegen nur 1.413 Stunden.

Abgesehen von potenziell erheblichen Messfehlern (viele Überstunden und ein großer Teil der Arbeit aller Selbstständigen fallen etwa aus dieser Statistik heraus), betreffen diese Zahlen aber nur Personen, die tatsächlich einer Erwerbsarbeit nachgehen. Das waren 2011 nach Angaben des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) in Deutschland 76 Prozent, in Polen nur 65 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger im Alter zwischen 20 und 64 Jahren. Insbesondere gehen in der Bundesrepublik viel mehr Menschen als in Polen einer Teilzeitarbeit nach, bringen also nur wenige Stunden in diese Statistik ein. Würde man die geleisteten Arbeitsstunden durch alle Bürger im erwerbsfähigen Alter teilen, ergäbe sich ein völlig neues Bild.

Noch größer ist der Abstand beim durchschnittlichen Geldvermögen pro Bürger: Es beträgt hierzulande 60.000 Euro, bei den polnischen Nachbarn knapp über 7.000 Euro. Dabei sind in beiden Ländern auch jene Personen mitgezählt, die überhaupt kein Vermögen besitzen oder sogar Schulden haben. Für Letztere ist das Vermögen negativ. Niemand käme auf die Idee, in diesem Durchschnitt nur solche Menschen zu berücksichtigen, die tatsächlich über ein Vermögen verfügen. Genau das wurde aber von Bundespräsident Gauck bei seinem Vergleich der durchschnittlichen Arbeitsstunden getan.

Völlig außer Acht bleiben dabei auch die private Kinderbetreuungs-, Haus- und Gartenarbeit sowie der Wert der Güter beziehungsweise Dienstleistungen, die tatsächlich während der Arbeitszeit produziert worden sind. Hier erzeugte im Jahr 2011 laut OECD ein polnischer Arbeitnehmer im Durchschnitt in einer Stunde Güter und Dienstleistungen im Wert von 26,20 Euro, ein deutscher Arbeitnehmer im Wert von 55,30 Euro.

Zur Aktion „Unstatistik des Monats“

Gemeinsam mit dem Bochumer Ökonomen Thomas Bauer (RWI für Wirtschaftsforschung) und dem Dortmunder Statistiker Walter Krämer (TU Dortmund) hat der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, im Jahr 2012 die Aktion „Unstatistik des Monats“ ins Leben gerufen. Ziel der Maßnahme ist es, monatlich sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen zu hinterfragen. Die Aktion will so dazu beitragen, mit statistischen Daten vernünftig umzugehen, in Zahlen gefasste Abbilder der Wirklichkeit korrekt zu deuten und eine immer komplexere Welt und Umwelt sinnvoll und allgemein verständlich zu beschreiben.

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