Historische Perspektiven auf Emotionen und Geschmacksurteile seit 1800
Warum ist die Liebe "schön" und der Zorn "hässlich"? Warum finden die einen die Leidenschaft eines Fußballfans "vulgär", während andere sie als "glühend" bezeichnen? Warum beurteilen wir Gefühle nach ihrem Ausdruck und mit Begriffen, die wir der Ästhetik entlehnen?
Emotionen werden oft zu einer Frage des (guten oder schlechten) Geschmacks - was sich auch in der Sprache äußert. Wir kosten Emotionen oder ihre Darstellung aus, wir genießen sie oder lassen uns etwas auf der Zunge zergehen. Wir bewundern Gefühle für ihr Understatement, ihre Bescheidenheit oder ihre Ausmaße; sie widern uns an oder färben auf uns ab; sie fühlen sich kitschig, protzig oder deplatziert an. Unsere eigenen Emotionen oder deren Ausdruck können uns ebenso wie die der anderen als geschmackvoll oder geschmacklos erscheinen. Wenn Gruppen in der Gesellschaft mit bestimmten Emotionen assoziiert werden, dann häufig mit dem Ziel, sie aufgrund der Art und Weise, wie sie Gefühle ausdrücken, auf- oder abzuwerten. Gefühle werden zum Gegenstand von Geschmacksurteilen, die immer auch sozio-kulturelle Urteile sind.
Heutige Forschende zu emotionalen Intelligenz empfehlen, dass wir zu "emotionale Connaisseurs" werden, dass wir eine feinkörnige Differenzierung zwischen emotionalen Konzepten entwickeln. Wir sollten bspw. daran arbeiten, Ekstase, Glückseligkeit und Begeisterung von Glücklichsein zu unterscheiden, um eine größere Fähigkeit zur emotionaler Kontrolle und Beherrschung zu erlangen.
Dieses Buch zeichnet die historische Entwicklung der heutigen emotionalen Kennerschaft nach und untersucht die Auswirkungen einer solchen Bewertung von Emotionen auf die Gesellschaft. Es ist ein interdisziplinäres Gemeinschaftsprojekt, das diese Frage anhand von 10 Fallstudien von 1800 bis heute untersucht. Unsere These: Geschmack ist eine noch nicht ausreichend erforschte Dimension, wenn es darum geht, zu bewerten, wie Emotionen die Gesellschaft formen.
Die Beiträge
Der Geschmack von Ehrgeiz. Der Umgang der Presse mit den Gefühlen der "Sportsgirls" der 1920er Jahre
Helen Ahner
Die potenziellen emotionalen und körperlichen Effekte des Frauensports waren in den 1920er Jahren Gegenstände anhaltender öffentlicher Diskussion. Vor allem die Wirkungen, die Wettkampf, Ehrgeiz und Leistungsstreben auf die „sportsgirls“ hatten, standen im Verdacht, die Grenzen des guten Geschmacks zu sprengen. Dieses Kapitel wirft einen Blick auf die emotionalen Geschmacksfragen des Frauensports und wie sie in der Presse besprochen wurden.
„Zerlumpte Männer zu Tränen gerührt“: Geschmacksdebatten, emotionaler Wandel und Onkel Toms Hütte auf der Bühne
Michael Amico
Als Onkel Toms Hütte im Amerika der 1850er Jahre als Theaterstück auf die Bühne kam, wurden die schwarzen Charaktere mit einer neu entdeckten emotionalen Sympathie dargestellt. In der Presse entluden sich Emotionen darüber, ob diese Darstellungen geschmackvoll oder geschmacklos waren. Dieses Kapitel zeigt, wie auf die Bühne gebrachte Geschmacksfragen und -darstellungen die Gefühle der weißen, nordamerikanischen Arbeiterklasse den Sklaven gegenüber veränderten.
Illustration von Hammat Billings für „Uncle Tom's Cabin; or, Life Among the Lowly,“ von Harriet Beecher Stowe. (Boston: John P. Jewett and Company, 1853). Tom, Eva.
Leidenschaften, Geschmack und Geschmacklosigkeit im bourbonischen Königreich Neapel
Stephen Cummins
Im Neapel des 18. Jahrhunderts gab es ein besonderes Spektakel: Zur Unterhaltung der Betuchten unternahmen die Armen der Stadt Raubzüge auf künstliche Essensberge. Im Zuge einer sich wandelnden Mentalität wurden die Veranstaltungen 1779 untersagt. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Verbindung von "Geschmack" und emotionalem Wandel im bourbonischen Königreich Neapel, insbesondere mit den Gefühlen und dem Konsum des sogenannten 'Pöbels'.
Warum so asozial? „Ultras“ und die Spielarten der Leidenschaft
Max Jack
Ultras sind eingefleischte Fußballfans, die in der Presse und in der Populärkultur oft als Hooligans missverstanden werden. Ich untersuche, wie Ultras sich öffentlich gezielt „asozial“ verhalten und zeige, wie die kollektive Performanz von Leidenschaft durch die Fans auf Außenstehende gewalttätig wirken kann, selbst wenn keine physische Gewalt im Spiel ist.
Als die Schweigeminute zum Gedenken an die Weltkriegstoten 1919 in die britische Memorialkultur eingeführt wurde, empfand die zur Teilnahme aufgerufene Bevölkerung diese Form der schweigenden Trauerbekundung als weitgehend unvertraut. Zwar gab es eine Vielzahl etablierter, sozial distinkter ästhetischer Schemata, um die Angemessenheit von Schweigen zu beurteilen. Doch es galt, diese miteinander in Einklang zu bringen – und dabei spielten Emotionen eine entscheidende Rolle.
Die Liebe zur alten Heimat und zum kulturellen Erbe der sudentendeutschen Vertriebenen und ihrer Nachkommen
Soňa Mikulova
In diesem Kapitel wird analysiert, wie Geschmacksurteile genutzt wurden, um bei den sudetendeutschen Vertriebenen Emotionen in Bezug auf Leid, Liebe und das „Recht auf Heimat“ zu wecken. Als sich die Geschmäcker im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und der EU-Erweiterung sowie der wirtschaftlichen Globalisierung und der Entwicklung der Kommunikationstechnologien änderten, wandelten sich diese und es bildeten sich neue kollektive Identitäten heraus.
Ein Gefühl für die Schlacht: Kriegsmemoiren, Literaturkritik und der Geschmack der britischen Leserschaft um 1800
Kerstin Maria Pahl
Während der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege waren auf dem englischen Buchmarkt jene Kriegsmemoiren besonders erfolgreich, die Einblick in die emotionale Welt des Schlachtfeldes gaben. In der sicheren Bleibe sitzend las man von lähmender Angst, enthusiastischem Blutdurst oder der melancholischen Stimmung nach dem Kampf. Soldatische Erfahrung wurde zur Erzählung und damit zum Gegenstand von Geschmacksurteilen.
Sich stolz fühlen: Neo-Ottomanismus als nationaler Habitus von türkischen Migrant*innen in Deutschland
Nagehan Tokdogan
Dieses Kapitel untersucht die emotionale Anziehungskraft, die das neo-ottomanische nationale Narrativ auf türkische Migrant*innen hat, und die damit verbundene Wertschätzung für Erdoğan. Dabei rücken Migrationserfahrungen und politischer Geschmack in den Blick. Interviews mit türkischen Migrant*innen in Deutschland werden ausgehend von Pierre Bourdieus Konzept des Geschmacks und der Distinktion sowie im Rückgriff auf Jonathan Heaneys Begriff des nationalen Habitus analysiert.
Emotionale Arbeit des Reinigungsdienstes nach einem einsamen Tod in Japan
Mika Toyota
Der „einsame Tod“ hat in Japan seit Mitte der 1990er Jahre große öffentliche Besorgnis ausgelöst. Was die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die soziale Isolation der Person vor dem Tod und die Frage, wie der Tod danach bewältigt werden kann. In diesem Kapitel wird untersucht, wie ein spezieller Reinigungsdienst für diese Fälle entstanden ist und wie er einen neuen emotionalen Anker für die Öffentlichkeit bieten kann, um die emotionalen Diskrepanzen auszugleichen.
Stolz und Vorurteil - Eine Geschichte des Gelsenkirchener Barocks
Julia Wambach
Mein Kapitel analysiert die starken Gefühle, die ein Einrichtungsstil hervorrief, der Gelsenkirchener Barock. Dieser ironische Begriff tauchte in den 1950er Jahren auf und diffamierte die Liebe der Arbeiterschaft für schwere, geschwungene Möbelstücke seit den 1930er Jahren. Das Kapitel untersucht, wie in der Bundesrepublik durch Emotionen und Geschmack Klassenzugehörigkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhandelt wurden.