Ethiken der Essenz

Zur emotionalen Produktion "rassischer" Subjektivität in völkischen Siedlungen (1890-1925)

Anna Danilina (abgeschlossenes Dissertationsprojekt, 2020)

Meine Dissertation analysiert völkische Siedlungsprojekte und sog. "rassegemäße" (Schnurbein 1999) Praktiken, die um 1900 auf eine Erneuerung der "arischen Rasse" gerichtet waren.
Um der angenommenen Schädigung der "arischen Rasse" durch Urbanisierung und Modernisierung entgegen zu wirken, welche ihre Position im globalen Kampf ums Überleben gefährde, initiierten die Völkischen autarke ländliche Siedlungen. Seit 1893 wurden viele Siedlungen geplant und auch realisiert. Insbesondere seit 1924 und im Nationalsozialismus wurde die Idee programmatisch umgesetzt.
In der jüngeren Forschung wird bereits punktuell der Kontinuität zwischen der Ideologie völkischer Siedlungen und dem Blut und Boden Kult des Nationalsozialismus nachgegangen. Weit weniger beachtet wird hingegen, wie ein globaler und kolonialer Kontext in die frühen "rassischen" Siedlungen in Deutschland einging. Ferner gerät die Kategorie der "Rasse" insbesondere dort aus dem Blick, wo sie über ein ideologisches Konzept hinaus eine (emotionale) Selbstverständlichkeit konstituiert und dem Körper des Selbst, der Gemeinschaft und des "Anderen" zu- und eingeschrieben wird.
Diese Forschungsarbeit betrachtet gerade die frühe Phase der Siedlungsbewegung in Hinblick auf drei verwobene Aspekte:
Erstens analysiert sie die Konstruktion von "Rasse" aus der Perspektive der Gefühls-, Körper- und Praxisgeschichte. Ausgehend von den Critical Race- und Critical Whiteness Studies gilt die Analyse der historischen Konstitution des "Ariers" - nicht nur in Ideologie und Diskurs, sondern als Erziehung von Gefühl und Körperlichkeit. Durch ein holistisches Konzept "rasse-gemäßer Ethik" war es Aufgabe völkischer Siedlungen, eine "rassische" Natur erst kulturell hervorzubringen. Eine Ethik der Selbstsorge sollte also die Essenz erst produzieren, in die ihr Ursprung gelegt wurde. "Rasse" wurde dabei nicht primär genetisch verstanden, sondern setzte notwendig eine Bildung von Körperlichkeit, Gemüt und Sittlichkeit voraus. Ich analysiere, wie "emotionale Praktiken" (Scheer 2011) und "affektive Ökonomien" (Ahmed 2004) das individuelle und kollektive Subjekt sowie dessen "Anderes" formen und hervorbringen. Meine Quellen behandeln hier zahlreiche Praktiken, die dezidiert der Produktion des "rassischen" Körpers galten.
Zweitens werden Praktiken wie Vegetarismus, Meditation, Freikörperkultur, sportliche Leibesübungen und extatischer Tanz auf ihre transnationale Genealogie und ihr koloniales Archiv hin gelesen. Damit sucht dieses Projekt, die völkische Bewegung aus einem Sonderwegsnarrativ auf den Nationalsozialismus hin herauszulösen. Statt dessen verbinden Praktiken der Rassifizierung den deutschen Antisemitismus, Nationalsozialismus und die Shoah mit der Gewalt und Segregation einer kolonialen Welt.
Drittens verweisen die "rassegemäßen" Praktiken auf die Verbindungslinien der völkischen Bewegung mit einem weiteren religiösen und politischen Spektrum innerhalb Deutschlands. Besonders die Lebensreform- und Jugendbewegung, aber auch buddhistische, hinduistische und selbst zionistische Gruppierungen werden auf ihre Verzweigung mit völkischen Reformbestrebungen hin befragt.

Literatur

  • Ahmed, Sara. The Cultural Politics of Emotion  (New York: Routledge, 2004).
  • Scheer, Monique. "Are Emotions a Kind of Practice (And is That What Makes Them Have a History)?" History and Theory 51.2 (2011): 193–220.
  • Schnurbein, Stefanie von. "Die Suche nach einer 'artgerechten' Religion in 'germanisch' und 'deutschgläubigen' Gruppen," in Uwe Puschner et al. (eds),  Handbuch zur "Völkischen Bewegung" 1871 - 1918 (München: Saur, 1999), 172-185.

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