“Arbeit als erstes Lebensbedürfnis”?

Eine Emotions- und Kulturgeschichte der Arbeit in der späten Sowjetunion, 1960-1980

Alexandra Oberländer

Die sowjetischen 1960er und 1970er Jahre gelten bis heute unter den Historiker_innen als die Jahre der Stagnation (zastoj). Der vermeintliche Stillstand dieser Zeit in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht lässt sich jedoch nur schwer mit den nostalgischen Gefühlen in Einklang bringen, die ehemalige Sowjetbürger*innen in der Rückschau auf jene Zeit hegen. Die Zeit der Stagnation erscheint vielen der "letzten sowjetischen Generation" als Zeit der Ruhe, der Normalität. Am Beispiel von Arbeit möchte ich jenes Lebensgefühl der damaligen Zeit einfangen. Arbeit war die zentrale Kategorie des sowjetischen Staates, entsprechend sollte Arbeit "das erste Lebensbedürfnis des sowjetischen Menschen" werden (XXII. Parteitag 1961).


Was also war Arbeit in der Sowjetunion? Welche Rolle spielte Arbeit in der Ökonomie der Sowjetunion wie im Leben des/der einzelnen? Wie Menschen ihre Arbeit tatsächlich wahrnahmen, wie sich soziale Beziehungen durch die Arbeit konstituierten, welche Rolle Arbeit im Leben eines/R sowjetischen Bürger*in spielte, sind die erkenntnisleitenden Fragen dieses Buchprojektes. Die Möglichkeiten reichten von Identifikation mit der (Lohn-)Arbeit bis zur offensiven Arbeitsverweigerung. Manche Sowjetbürger_innen empfanden ihre Arbeit schlicht als Job, als Mittel zum Zweck und nicht wie von der sowjetischen Führung erträumt als Erfüllung, als eigentlichen Zweck des Daseins. Statt zum ersten Lebensbedürfnis wurde Arbeit in Komödien und Songtexten etwa zum Witz, zum Objekt des Spotts. Zugleich aber schien Arbeit etwas gewesen zu sein, was die Sowjetmenschen vergesellschaftete, Teilhabe und Gemeinschaft herstellte. In manchen Egodokumenten scheint es gar, als sei Arbeit in der Tat zum "ersten Lebensbedürfnis des sowjetischen Menschen" geworden und erinnert darin doch zugleich an neoliberale Arbeits- und Gesellschaftsmodelle, wie wir sie heute kennen. Eine Emotions-und Kulturgeschichte der Arbeit in der späten Sowjetunion wird solche Widersprüche vielleicht nicht zu lösen in der Lage sein, aber sie wird womöglich zeigen, dass von der Sowjetunion mehr übrig geblieben ist als es das "Ende der Geschichte" für möglich hielt.

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