Am Ende der Empfindsamkeit

Emotionen, Gefühllosigkeit und die britische Idee des Fortschritts, ca. 1780 bis 1840

Kerstin Maria Pahl

Gibt es ein Gefühl der Gefühllosigkeit, "the feel of not to feel it“? Die britischen Kultur des 19. Jahrhunderts ist reich an Auseinandersetzungen mit einem Mangel an Empfindung. Dieses Habilitationsprojekt untersucht, wie sich Unempfindlichkeit zwischen ca. 1780 und 1870 in Diskursen und Praktiken darstellt, sei es in der Politik, dem Militär oder der Religion, in Literatur, bildender Kunst oder visuellen Medien.

Denn Szenarien der Gefühllosigkeit waren allgegenwärtig. Sozial engagierte Autoren und Philanthropen prangerten die Gleichgültigkeit im Angesicht der Verwahrlosung der unteren Bevölkerungsschichten an. Sozialreformer entsetzten sich über die Gefühlskälte der Fabrikbesitzer, die Grausamkeit der Sklavenhändler und die Abgestumpftheit der Arbeiter. Opiumabhängige versanken in betäubtem Rausch. In zahllosen Autobiographien beschrieben Soldaten, wie sie durch die fortwährenden Schlachten nicht nur den Feind töteten, sondern wie auch ihre eigenen Empfindungen erstarben. Britische Missionare beklagten die "chinesische Apathie", die angebliche Unempfänglichkeit für religiöse Gefühle, obwohl auch englische Christen, wie ein Zeitgenosse schrieb, "gewohnheitsmäßig die öffentlichen Regeln der Religion vernachlässigten". Kaltherzige Charaktere bevölkerten Romane, Kurzgeschichten und Flugblättern, die Literatur entwickelte einen zunehmend empathielosen Erzählstil. Der soziale Realismus erging sich in aufrüttelnden und zugleich pittoresken Darstellungen der Armut.

Die vielfältigen Ausdrucksformen des Gefühllosen scheinen im eklatanten Widerspruch zu der Kultur der Empfindsamkeit zu stehen, wie sie sich im späten 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Vielfach geschah dies absichtsvoll, denn gefühlloses Verhalten vor dem Hintergrund einer Norm des Mitgefühls erzielte verschiedene Effekte. Konnte ostentative Ungerührtheit einerseits als Selbstentwurf dienen, steigerte die soziale Kälte das Mitleid für Unterdrückte und klagte deren Knechter an. Unempfindsamkeit war ein wichtiger Teil des kolonialen Zivilisationsdiskurses im entstehenden Empire, denn gefühllos waren, sehr häufig, die Anderen – jene Briten und Nicht-Briten, denen weder das eigene noch das Wohl der Allgemeinheit am Herzen lagen.

Methodisch verbindet das Projekt Ansätze aus der Geschichts- und Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Visual History, um sich der politischen Wirkmacht, der historischen Bedeutung und den kulturellen Figurationen von Gefühllosigkeit anzunähern. Auf der Grundlage des Quellenmaterials aus sozialtheoretischen Texten, politischen Diskursen, Literatur und medizinischen Traktaten unterteilt die Studie Gefühllosigkeit in vier "Sorten": Gleichgültigkeit, Kaltherzigkeit, Betäubung und Apathie. Diese Kategorien schließen sich gegenseitig nicht aus, beziehen sich aber auf die historischen Semantiken und die zeitgenössischen Beschreibungen einer spezifischen Haltung der und zur Unemotionalität.

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