Das Klassenzimmer als Labor der globalen Moderne

(1850-1980)

Anja Laukötter

Das 1960 von Philipp Ariès publizierte umfassende Werk "L’enfant et al vie familiale sous l’ancien régime", das die lange Geschichte und Erfindung der Kindheit vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert nachzeichnet, inspirierte und prägte die sozialhistorische Forschung maßgeblich. Hieran anknüpfend konzentriert sich das Projekt auf das Klassenzimmer als spezifischen Raum der kindlichen Erfahrungswelt in der Zeit von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert. Dabei versteht sich diese Historisierung des Klassenraums als eine Verflechtungsgeschichte, die seinen Schwerpunkt auf die deutsche Entwicklung legt, aber insbesondere ab dem Ende des 19. Jahrhundert auch zentrale Entwicklungen in den deutschen Kolonialgebieten sowie in Europa und den USA mit berücksichtigt.

Mit Hilfe neuerer Ansätze der Emotions-, Raum-, Objekt-, Alltags- und Wissenschaftsgeschichte wird dieser spezifische Ort ein wichtiger Schauplatz, an dem sich zentrale gesellschaftliche Wandlungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts verdichtet haben: Der Klassenraum, so die These, ist ein Labor der globalen Moderne. Im Labor des Klassenzimmers wurden nicht nur Beziehungen zwischen Kindern/Eltern und Lehrpersonal erprobt und Vorstellungen von Klasse und Herkunft konkretisiert, sondern auch Konzepte wie Intelligenz, Begabung und Leistung manifestiert und zu neuen Lebenszielen erklärt.

Das Projekt will keine Konzeptgeschichte dieser Begriffe im engeren Sinne schreiben, sondern fragt vielmehr nach dem Status der Emotionen in diesen Konstrukten, in den Methoden ihrer Messung sowie im Alltag des Klassenzimmers und in der Erfahrungswelt des Kindes. Denn, so die Annahme, Emotionen spielen hierbei eine variierende aber zentrale Bedeutung im späten 19. und im 20. Jahrhundert, die bis in die Gegenwart reicht  – wie es sich u.a. gegenwärtig im florierenden und populären Begriff der "emotionalen Intelligenz" ausdrückt. Diese prozesshaften Veränderungen waren nicht nur Resultat der "Verwandlung der Welt" (Jürgen Osterhammel), sondern sie produzierte auch die Figur des Schulkindes und eine damit einhergehende Problematisierung, deren Reichweite bis in die Gegenwart spürbar ist.

Auf diese Weise wird das Projekt zeigen können, wie die wissenschaftliche Disziplinen (von der Psychologie bis zur empirischen Bildungsforschung) unserer Vorstellungen und unser Wissen über die "Bildung der Jugend" geprägt haben und unseren Alltag mitbestimmen – in welcher Weise eine "Verwissenschaftlichung des (Schul-)Alltags" funktioniert und welche Auswirkungen sie auf den schulischen Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont hatte. Bildung, so die These, ist heute keine "l’éducation sentimentale" im Sinne Gustav Flauberts, sondern ein Labor, in dem spezifische Experimentalpraktiken der Absicherung von Bildung dienen.

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