Demokratie in den Play-offs

Etablierte Demokratien geraten zunehmend unter Druck – und erodieren. Erst langsam, unbemerkt und mit einem Mal rasend schnell. Welche Effekte besonders fatal wirken und wie eine Gesellschaft der Entwicklung begegnen kann

Etablierte Demokratien geraten zunehmend unter Druck – und erodieren. Erst langsam, unbemerkt und mit einem Mal rasend schnell. Welche Effekte besonders fatal wirken und wie eine Gesellschaft der Entwicklung begegnen kann, erforscht Ralph Hertwig am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Fakt ist: Passives Zuschauen wird die Erosion nicht aufhalten.

Text: Michaela Hutterer

Auf den Punkt gebracht

  • Liberale Demokratien geraten zunehmend in den Rückstand. Autokratien nehmen zu.
  • Das Risiko der Autokratisierung: Verletzen Regierungsmitglieder und andere Entscheidungsträger wiederholt ungeschriebene demokratische Normen - ohne Sanktion durch Gerichte oder Gesellschaft –, steigt das Risiko der Autokratisierung.
  • Digitale Medien – in ihrer aktuellen, beinahe unregulierten Form – beschleunigen vor allem in etablierten  Demokratien eine Polarisierung der Gesellschaft, populistische Politik und das Misstrauen in demokratische Institutionen und ihre Vertreter.

88 zu 91. Was wie ein knappes Basketballergebnis anmutet, ist in Wahrheit der aktuelle Stand im Spiel Demokratien gegen Autokratien weltweit. Ermittelt hat ihn das V-Dem (Varieties of Democracy) Institut in Göteborg für die Saison 2024. Erstmals seit 20 Jahren gerät die Demokratie in den Rückstand, im Jahr zuvor stand es noch 91 zu 88.

Mittlerweile leben viel mehr Menschen in Autokratien als in Demokratien – und zwar 72 Prozent der Weltbevölkerung. Die Kriterien liberaler Demokratien, wie Gewaltenteilung, freie und faire Wahlen und Bürgerrechte, hielten 2024 nur 29 Länder ein (zuvor 32), darunter Japan, die Schweiz und einige EU-Staaten wie Deutschland, Schweden oder Dänemark – so wenige wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr.

Für den Demokratiebericht bewerten Forschende 202 Länder anhand von 600 Parametern. Je nachdem, wie gut die Gewaltenteilung funktioniert, die Meinungsfreiheit gewährleistet wird oder die Wahlen frei und fair sind, rutschen Länder im Ranking ab oder steigen auf. Anzeichen, dass „die Autokratisierungwelle ihren Höhepunkt erreicht oder sich sogar verlangsamt“, fand das V-Dem Institut nicht.

Eine Frage der Zeit

Nun führt ein Rückstand im Sport nicht automatisch zur Niederlage. Entscheidend sind viele Faktoren, allen voran, wie viel Zeit bleibt, um das Spiel zu drehen. Gute Coaches wissen, welche Taktik aufgeht und welche eher nicht. Ist es Zeit für neue Spieler, eine andere Ordnung auf dem Spielfeld, neue Spielzüge, anderes Verteidigungsverhalten? Über aller Taktik steht aber etwas Essenzielles, kaum Messbares: der Wille zum Sieg – im Team, bei jeder Spielerin und jedem Spieler und auch beim Publikum. Wollen sie das Spiel drehen oder resignieren sie?

„In einer Demokratie sind wir oft Spieler und Zuschauer zugleich“, sagt Ralph Hertwig. Er leitet den Bereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Als Psychologe beschäftigt er sich mit menschlichem Verhalten und Entscheidungen. Er erforscht kognitive Werkzeuge, die wir dabei nutzen – gerade unter anspruchsvollen Bedingungen wie Zeitdruck, Unsicherheit, Überforderung oder Wissensvorsprüngen anderer. Kaum ein Lebensbereich fordert dabei so viele Entscheidungen ab wie die digitale Welt, sei es auf sozialen Plattformen wie X oder Facebook oder aber in den Kommentarspalten von Nachrichtenseiten, in Chatgruppen oder Internetforen. „In der digitalen Welt sind wir immer Zuschauer, aber oft auch Spieler“, sagt Hertwig. Wie gestalten wir dabei unser digitales Miteinander, welche Inhalte konsumieren wir, was teilen wir – aber auch wann verlassen wir eine Plattform, eine Chatgruppe?

„Viele Menschen spüren den Erosionsprozess der Demokratie, gepaart mit einer großen Unzufriedenheit und Erschöpfung.“ Inflation, ökonomische Ungleichheit, Klimafolgen, Zukunftssorgen, künstliche Intelligenz und tiefgreifende Änderung unserer Berufswelt – große Sorgen im Zeitalter der Polykrise befeuern auch den Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Demokratie und führen zu einem gefährlichen Formtief. Wie im Sport ist auch in einer Demokratie die Einstellung, das Mindset, mitentscheidend. Wie widerstandsfähig sind wir als Gesellschaft gegen die Verlockungen vermeintlich einfacher Lösungen für komplexe Probleme, die Populisten weltweit versprechen? Reicht das Grundvertrauen in das System, in dem politische Entscheidungen auf Kompromissen basieren und nicht auf Dekreten einzelner Machthaber und ihrer Getreuen?

Lernen von Hochsicherheitssystemen

„Wir suchten ein wissenschaftliches Modell, das Veränderungen in politischen Kulturen möglichst genau aufzeigen kann. Wir fragten uns: Wie gefährdet ist unsere Demokratie bereits und welche Handlungsmöglichkeiten haben wir zum Gegensteuern?“, erklärt Hertwig den Ansatz einer neuen Forschungsarbeit. Antworten lieferte ein Modell aus der Risikoforschung, etwa für ein Atomkraftwerk, eine Bohrinsel oder eine Raketenmission. „Obwohl solche Systeme mit mehreren Schichten von Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet sind und Fehlertoleranzen aufweisen, kann das System in eine Gefahrenzone gleiten und havarieren“, erklärt Hertwig.

„Drift to Danger“ heißt das Modell, das auf den Kraftwerksexperten und Unfallforscher Jens Rasmussen zurückgeht. Demnach ist jedes System von Zielen und Zwängen geprägt, an die sich der Einzelne halten muss, damit das System sicher funktioniert. „Es bewegt sich in einem abstrakten Raum, der durch drei harte Grenzen definiert wird. Überschreitet das System eine dieser Grenzen, kollabiert es. Die Gründe können vielfältig sein“, sagt Hertwig. Eine Grenze ist etwa die Wirtschaftlichkeit – jedes System fährt ohne ausreichende finanzielle Ressourcen oder Rentabilität gegen die Wand. Eine schlechte Haushaltslage und Inflation können Gefahren vergrößern. Auch technisches Versagen bringt ein System zum Kollaps.

Die dritte Grenze definiert der Mensch – genauer gesagt seine Kapazität, das System zu warten und instand zu halten, sowie die Bereitschaft, den eigenen Spielraum bei der Aufgabenerfüllung zum Wohle des Systems zu nutzen. Im Modell reagiert das System auf Druck und kann in eine Gefahrenzone driften. Das geschieht ruckartig, nicht linear – ähnlich wie kleinste Teile gemäß der Brownschen Molekularbewegung.

Nachdem im März 1979 der Reaktorkern im Block II des Three-Mile-Island-Kraftwerks nahe Harrisburg, USA, schmolz, zeigte sich im Nachhinein eine Vielzahl an Versäumnissen, die in der Abfolge und Summe die Funktionsfähigkeit des Reaktors ausgehöhlt hatten – unbemerkt und schleichend.

Lehrreiche Beinahe-Unfälle

Das lässt sich auch auf Demokratien übertragen, wie ein Blick in die Geschichte zeigt: Auch Demokratien fallen nicht abrupt, sie erodieren. „Es sind schleichende, oft schwer wahrnehmbare Prozesse, die ein sicheres System in einen kritischen Zustand versetzen, was dann abrupt zum Systemversagen führen kann“, sagt Politikwissenschaftler Christoph Abels von der Uni Potsdam. Gemeinsam mit Hertwig hat er sieben Beinahe-Kernschmelzen in der jüngeren Geschichte analysiert. Fälle, in denen etwa ein Rückfall in die Autokratie in letzter Minute verhindert wurde. So in Finnland im Jahr 1932, als sich wichtige Militärs dem Aufstand von Mäntsälä der nationalistischen Lapua-Bewegung nicht anschlossen. Richter hatten im Nachgang die Aufständischen hart bestraft, und es bildete sich ein parteiübergreifendes Bündnis als Gegeninitiative. Oder in Spanien. Dort endete im Februar 1981 der Putschversuch von Demokratiegegnern durch den Einsatz des damaligen Königs Juan Carlos I, der sich nicht von einem besetzten Parlament und Panzern auf den Straßen in Valencia einschüchtern ließ – ebenso wenig wie das spanische Volk, das wenige Jahre zuvor das Ende der Diktatur unter Franco gefeiert hatte.

„Unsere Untersuchung zeigt: Bei allen Beispielen hatten einflussreiche politische Akteure weit im Vorfeld demokratische Normen verletzt“, so Ralph Hertwig. Unter demokratischen Normen versteht er dabei die Regeln, die in einer Demokratie unerlässlich sind. Neben der Bindung an Recht und Gesetz, Freiheitsrechte und Gewaltenteilung zählen dazu auch ungeschriebene Regeln, Verhaltenscodizes, die eine Gesellschaft und die Politik teilen und einhalten. Etwa nicht permanent und systematisch zu lügen.

 „Was vor wenigen Jahren noch zum Rücktritt einer Ministerin und sogar eines US-Präsidenten führte, scheint mittlerweile ein Mittel des politischen Wettbewerbs und des Regierungshandelns zu sein. Diese und andere Normverletzungen werden normalisiert“, sagt Hertwig. Mit gravierenden Folgen: „Wenn sich eine Gesellschaft daran gewöhnt, dass systematisch Lügen verbreitet werden, dass politische Gegner diskreditiert, freie Medien bedroht, Parlamente übergangen und Gesetze gedehnt werden, gleitet eine Demokratie in die Autokratie ab.“

Langsames Abdriften

Das genaue Wann lässt sich dabei nicht vorhersagen, wohl aber die Faktoren, die diesen Drift (to Danger) beschleunigen: eine Kombination aus Populismus, Fehlinformation und Polarisierung. „Diese Faktoren schwächen die Schutz- und Kontrollmechanismen, die politische Entscheidungsträger normalerweise daran hindern, zentrale demokratische Normen zu untergraben“, erklärt der Forscher. Dabei erfolgen die Verletzungen schrittweise. „Ab einem bestimmten Kipppunkt ist die Rückkehr zu demokratischen Prozessen mit den üblichen Kontrollmechanismen, etwa durch Wahlen oder zivilgesellschaftliches Engagement, kaum noch möglich“, erkennt Christoph Abels. Wie ein wiederholt unterlassener Sicherheitscheck.

Dass etablierte Demokratien mit dem Aufkommen sozialer Medien vor 15 Jahren zunehmend unter Druck stehen, ist für Verhaltensforscher kein Zufall. Bereits 2022 hat ein Team um Ralph Hertwig gezeigt, wie die Nutzung digitaler Medien – vom Post auf X und Co. bis zum Kommentar unter einem Online-Artikel – und wichtige Dimensionen liberaler Demokratien zusammenhängen. „In Autokratien und sich entwickelnden Demokratien kann der Austausch im Internet durchaus positive Effekte haben, etwa für politische Teilhabe und Zugang zu Informationen“, berichtet Politikwissenschaftlerin Lisa Oswald, Forscherin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die mit Hertwig rund 500 Forschungsarbeiten ausgewertet hatte.

„In etablierten Demokratien zeigen sich indes auch diverse Gefahren. Viele Studien finden Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und geringem Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen, stärkerer Polarisierung und Zustimmung für populistische Akteure“, sagt Oswald. 2025 überprüften – replizierten, wie es im Fachjargon heißt – andere Forschende diese Effekte auch in Studien, die bis 2024 veröffentlicht wurden, und bestätigten sie. Polarisierende Beiträge erzeugen typischerweise größere Reichweiten durch ein Geschäftsmodell, das Aufmerksamkeit belohnt und monetarisiert. „Zusätzlich wird die Mehrheit politischer Inhalte in sozialen Medien von einer kleinen, aber hochaktiven Minderheit erzeugt – die aber sehr sichtbar ist“, erklärt Lisa Oswald. So können Räume von Gleichgesinnten entstehen, die sich gegenseitig verstärken und mehr und öfter Inhalte produzieren als die moderate Mitte, die eher schweigt. Was demokratische Beinahe-Unfälle aber auch lehren: „Ein entschiedenes Eintreten der Öffentlichkeit für den Erhalt demokratischer Normen – auch gegen eigene politische Interessen – ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Robustheit liberaler Demokratien. Leider untergraben Polarisierung und Populismus die gesellschaftliche Bereitschaft dafür zunehmend“, sagt der Potsdamer Forscher Christoph Abels.

Boost yourself!

„Wir beobachten eine erschöpfte Gesellschaft“, sagt Hertwig. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen ignoriert Fakten, boykottiert Qualitätsmedien und bezieht politische Informationen allein aus den sozialen Medien. „Unsere Fähigkeit, kritisch zu denken und zu hinterfragen, gerät durch die Flut an Nachrichten, Krisen und Regelbrüchen an ihre Grenze.“ Hertwig untersucht Wege, unsere begrenzten kognitiven Ressourcen besser einzusetzen. Er verwendet den Begriff des „citizen choice architect“, wonach jeder Mensch Architektin oder Architekt der eigenen unmittelbaren Umwelt ist – gerade und vor allem im Digitalen. „Es gibt eine Menge von kleinen, aber wirkungsvollen Änderungen, die wir vornehmen können, um uns zum Beispiel vor Falschinformation, Manipulation und der Enteignung unserer Aufmerksamkeit im Internet schützen können.“

Schritt 1: „Wir können kognitive Souveränität wiedererlangen und uns bewusst machen, ob, wann und wie wir manipuliert werden, weil Aufmerksamkeitshändler wie digitale Plattformen oder Produzenten von Falschinformation ausnutzen, wie wir ticken“, sagt der Psychologe. So glauben wir oft Inhalten, wenn wir sie wiederholt wahrnehmen. „Auch Inhalte, die unserer eigenen Auffassung entsprechen, halten wir eher für wahr“, erläutert Hertwig. Hinzu kommt, dass Inhalte, die starke negative Emotionen hervorrufen, unsere Aufmerksamkeit fesseln. „Wir können diese Emotionen aber auch als Ratschlag nutzen, den Wahrheitsgehalt der Information unter Prüfungsvorbehalt zu stellen“, sagt Hertwig.

Auch unbekannte Webseiten oder Nachrichten lateral zu lesen, gibt uns Souveränität zurück und lässt uns entscheiden, ob man ihnen glauben soll. „Wir gehen wie professionelle Faktenchecker vor.“ Einfach im Browser neben der Nachricht einen weiteren Tab öffnen – also seitwärts – und darin via Google und Co. herausfinden, wer hinter der Webseite steckt. Es gebe erstaunlich seriös wirkende Webseiten von Interessengruppen, die mit ihren Inhalten nicht informieren, sondern Menschen beeinflussen wollen.

Dieser Einfluss schwindet jedoch, wenn wir Inhalte nicht leichtfertig teilen, sondern uns vorab fragen: Warum teile ich es, ist es wahr, von wem kommt es, ist es wichtig? Und sollte uns das Gefühl der Ohnmacht ob einer politischen Entwicklung überkommen, kann ein simpler Zahlencheck helfen, Nachrichten einzuschätzen: Was ist die Basis, genauer: die absolute Häufigkeit, von der aus etwa die Steigerung von Flüchtendenzahlen, Mehrausgaben oder Kriminalitätsraten berechnet wird? Eine Schlagzeile wie „Zahl der Delikte hat sich verdoppelt“ lässt sich nur seriös einordnen, wenn man die Fallzahlen aus dem Vorjahr kennt: Waren es zwei oder 2000 Fälle?

In Schritt 2 können wir selbst Macht zurückgewinnen – als kritischer Konsument. „Wenn wir Entscheidungen treffen, die jede für sich klein, aber in der Summe groß sind, bewirken wir als Gesellschaft viel“, sagt Hertwig und blickt etwa auf die Verkaufszahlen eines Elektroautoherstellers aus den USA. Auch Macht über das eigene Verhalten am Handy lässt sich zurückgewinnen: durch das simple Verschieben von sozialen Apps in einen Folder („aus den Augen, aus dem Sinn“), eine selbst gewählte Zeitbegrenzung oder die Nutzung des Handys im Schwarz-Weiß-Modus: Ohne Farben fesseln Posts, Reels und Videos die Aufmerksamkeit weniger. Auch eine App, die vor dem Öffnen fragt, ob Facebook und Co. wirklich geöffnet werden sollen (one sec), lässt uns überlegen und kann endloses Scrollen verhindern.

„Dass wir unser Verhalten ändern und neue Kompetenzen entwickeln können, zeigte die Pandemie vor fünf Jahren“, sagt Hertwig. Wie schnell viele von uns medizinisches Fachwissen lernten, persönliche Einschränkungen zum Schutz gefährdeter Personen aushielten und neue Arbeitsmodelle entwickelten, zeigt, wie wir gemeinsam mit neuem Wissen und Kompetenzen sowie Mitgefühl und Solidarität Krisen überwinden können. Untätigkeit begünstige den Drift – oder die Niederlage im Wettkampf der politischen Systeme.

Aktuell steht es 88 zu 91. Wäre der Score von 2024 tatsächlich ein Basketball-Spielstand, so wissen Fans: Wenige Sekunden reichen für einen Ausgleich. Höchste Zeit also, ins Time-out zu gehen mit den Spielern der Demokratie und ihren Zuschauern und klären: Wie wollen wir leben?

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