Das Paradox des Erfolgs der Demokratie
Warum wir Warnsignale für die Autokratisierung übersehen und Katastrophen nicht einschätzen können. Ein Beitrag von Ralph Hertwig und Stephan Lewandowsky
Auf den Punkt gebracht
- Persönliche Erfahrungen: Individuelle Erlebnisse beeinflussen die Wahrnehmung von Risiken, was dazu führt, dass seltene, katastrophale Ereignisse als unwahrscheinlich angesehen werden.
- Kollektive Gleichgültigkeit: Aufgrund stabiler Demokratien in Westeuropa seit 70 Jahren haben Bürgerinnen und Bürger keine Erfahrungen mit autokratischen Regimen, was zu einer gefährlichen Skepsis führt.
- Simulation von Erfahrungen: Um das Bewusstsein für die Gefahren autokratischer Regime zu schärfen, könnten Simulationen und Erfahrungsberichte von Betroffenen hilfreich sein.
Der Fall der Berliner Mauer 1989 ebnete den Weg für die Demokratisierung vieler osteuropäischer Staaten. Begleitet von großem Jubel wurde das Zeitalter der globalen liberalen Demokratie eingeläutet, das einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als das „Ende der Geschichte“ feierten. Die Idee: Die politische Geschichte der Menschheit folgt einem vorgezeichneten Weg, wobei die Entwicklung der Regierungsformen ihren Endpunkt in der westlich-liberalen Demokratie findet. Bedauerlicherweise nahmen die Dinge einen etwas anderen Lauf.
Die letzten 20 Jahre waren nicht von stetigem Fortschritt geprägt, schon gar nicht markierten sie das Ende der Geschichte. Die immer größeren Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in vielen westlichen Ländern, von Frankreich bis Finnland, von den Niederlanden bis Deutschland, haben das Ende der Geschichte in ein mögliches Ende der Demokratie verwandelt.
Aber warum wenden sich so viele Europäerinnen und Europäer von dem politischen System ab, das den erfolgreichen Wiederaufbau des Kontinents nach dem 2. Weltkrieg ermöglichte und dadurch den florierendsten Binnenmarkt der Welt schuf?
Die Gründe dafür sind vielfältig: wirtschaftliche Krisen, zunehmende Ungleichheit, der negative Einfluss sozialer Medien auf das politische Verhalten sowie Verletzungen demokratischer Normen durch Entscheidungsträgerinnen und -träger. Es gibt aber einen weiteren Auslöser, der nur selten diskutiert wird: die Macht der persönlichen Erfahrung.
Die Macht der persönlichen Erfahrung
In den letzten zwei Jahrzehnten haben Verhaltenswissenschaftler umfassend untersucht, wie persönliche Erfahrungen unser Handeln beeinflussen. Empfindungen wie Schmerz, Freude, Belohnung, Verlust, die beim Durchleben von Ereignissen auftreten, sowie Informationen und Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen, ermöglichen uns eine Bewertung unseres bisherigen Handeln und prägen unser zukünftiges Verhalten.
Eine positive Erfahrung, die aus einer bestimmten Option resultiert, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Option erneut gewählt wird; eine negative Erfahrung bewirkt das Gegenteil. Die systematische Erfassung menschlicher Erfahrungen – insbesondere im Umgang mit Lebensrisiken – kann helfen, auf den ersten Blick unverständliches Risikoverhalten zu erklären, etwa wenn Menschen Häuser in Überschwemmungsgebieten, in erdbebengefährdeten Regionen oder am Fuß eines aktiven Vulkans bauen.
Der Vesuv, Europas „tickende Zeitbombe“, gilt als einer der gefährlichsten Vulkane der Welt. Nichtsdestotrotz leben in der sogenannten Roten Zone an seinem Fuß rund 700.000 Menschen, die augenscheinlich die eindringlichen Warnungen der Vulkanologen ignorieren.
Um diese Gleichgültigkeit im Angesicht der möglichen Katastrophe zu verstehen, muss man die individuellen und die kollektiven Erfahrungen mit dem Risiko genauer anschauen: Der letzte größere Ausbruch des Vesuvs liegt 81 Jahre zurück, die meisten Bewohner der Roten Zone haben deshalb nie selbst eine größere Eruption miterlebt. Ihre eigene alltägliche Erfahrung vermittelt ihnen somit das Gefühl, dass „alles in Ordnung“ sei.
Eine Vielzahl psychologischer Experimente belegt, wie diese Haltung entsteht. Urteilen wir auf der Grundlage unserer Erfahrungen, unterschätzen wir eher die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Auswirkungen seltener Ereignisse – aus dem einfachen Grund, dass sie sehr selten sind.
Extrem seltene Ereignisse mit katastrophalen Folgen, insbesondere auf den Finanzmärkten, werden als „Schwarzer Schwan“ bezeichnet. Ihre mögliche Eintrittswahrscheinlichkeit wurde lange Zeit unterschätzt, was zu unzureichender Bankenaufsicht und in der Folge zu verheerenden Marktverwerfungen wie der globalen Finanzkrise von 2008 beitrug.
Unterschätztes Risiko, wachsende Skepsis
Die Menschen in Westeuropa erleben seit mehr als 70 Jahren stabile Demokratien und wachsenden Wohlstand. Bislang haben sie mit der Machtübernahme durch autokratische Regime keine Erfahrungen machen müssen und vielleicht unterschätzen sie genau deshalb das Risiko eines Zusammenbruchs der Demokratie.
Paradoxerweise ist es also gerade der Erfolg der demokratischen Systeme, der ihnen zum Verhängnis werden könnte. Dieses Phänomen erinnert an das Präventionsparadox: Ausgerechnet der Erfolg präventiver Maßnahmen wie etwa Impfungen im Kindesalter kann dazu führen, dass in der Wahrnehmung der Bevölkerung ihre Relevanz sinkt und in der Folge Gleichgültigkeit und Impfskepsis wachsen.
Gefährlich ist zudem die verhängnisvolle Korrelation zwischen der allmählichen Erosion eines demokratischen Systems und der Wahrnehmung seiner Bürgerinnen und Bürger. Die Geschichte hat gezeigt, dass Demokratien nicht plötzlich in Flammen aufgehen. Demokratien gehen in der Regel langsam zugrunde, Stich für Stich, bis ein Kipppunkt erreicht ist.
Einen einmaligen Konventionsbruch durch Spitzenpolitiker und -politikerinnen wird die Öffentlichkeit in der Regel nicht als demokratiegefährdend wahrnehmen. Wenn jedoch toleriert wird, dass demokratische Normen wiederholt durch die politische Führungsschicht verletzt werden, wenn rhetorische Grenzüberschreitungen eskalieren, wenn eine Flut von Lügen und manipulativen Behauptungen zur „Normalität“ wird und die Öffentlichkeit versäumt, die frühen Anzeichen eines solchen Verhaltens an der Wahlurne abzustrafen, kann dies drastische Folgen haben. Ähnlich wie der Betrieb eines Atomkraftwerks so lange als sicher gilt, bis das letzte Sicherheitsventil ausfällt, können auch Demokratien den Anschein von Stabilität bis zu dem Zeitpunkt aufrechterhalten, an dem die Schwelle zur Autokratie überschritten wird.
Aus Simulationen lernen
Eine Lösung könnte darin bestehen, die Erfahrung mit den entsprechenden Risiken zu simulieren – selbst wenn dies nur mithilfe von groben Annäherungen geschieht. Bei Schulungen in japanischen Katastrophenschutzzentren etwa werden die dramatischen Dimensionen eines Erdbebens sowie sein schneller, dynamischer Ablauf so realistisch nachgestellt, wie es selbst die drastischsten Warnungen in Wort und Schrift nicht zu vermitteln vermögen.
Wir sind überzeugt, dass wir ebenso eindrücklich simulieren können, wie sich das Leben unter einem autoritären Regime anfühlt. So können etwa anschauliche Erfahrungsberichte von anderen sehr eindrucksvoll sein. In Europa leben Hunderttausende Migrantinnen und Migration, die in Autokratien gelebt haben und etwa in Schulen von ihren persönlichen Erfahrungen berichten könnten. Auch ein Besuch von Orten wie dem ehemaligen Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen gewährt einen Einblick in das Leben politischer Gefangener in autoritären Systemen, insbesondere dann, wenn die Führungen von ehemals Inhaftierten übernommen werden. Die Erfahrung von Unterdrückung und Autoritarismus kann auf vielfältige Weise nachvollziehbar gemacht werden, um diejenigen zu informieren, die glücklicherweise selbst nie darunter leiden mussten.
Die Annahme, dass bedrohliche Ereignisse dauerhaft ausbleiben, ist verlockend, aber sie kann uns gefährlich in die Irre führen. Doch wir müssen uns in unserem Handeln keineswegs davon beschränken lassen, dass wir etwas noch nicht selbst erlebt haben – Erfahrungen lassen sich auch anders vermitteln. Mit der daraus resultierenden positiven Kraft können wir einen Beitrag dazu leisten, unsere demokratischen Systeme zu schützen.
Anmerkung: Der Artikel ist eine autorisierte Übersetzung des englischen Original- Artikels, der unter creative commens-Lizenz auf der Website The Conversation erschienen ist (Publikationsdatum 21. März 2025)













