„Das sind wir“ - Fragen an Soňa Mikulová

Die Historikerin Soňa Mikulová vom Forschungsbereich Geschichte der Gefühle erforscht die emotionale Integration der sudetendeutschen Vertriebenen nach 1945. In diesem Interview diskutiert sie ihre Forschung, welche Lehren wir für aktuelle Integrationsdebatten ziehen können und gibt Einblick in ihre kommenden Projekte. In unserem Format "Das sind wir" teilen Kolleg*innen Einblicke in ihre Arbeit und Motivation. 

Du arbeitest am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle über die emotionale Integration der sudetendeutschen Vertriebenen nach 1945. Worum geht es in Deinem Projekt genau? 

Soňa Mikulová: Die emotionale Dimension der Integration, so wie ich sie in meiner Forschung verstehe, geht über die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Integration hinaus, die normalerweise die Ziele der aktuellen Einwanderungspolitiken weltweit sind. Einfach ausgedrückt geht es um den Prozess, in dem Neuankömmlinge beginnen, sich in der neuen Umgebung heimisch zu fühlen, einschließlich eines Gefühls der Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft und eines Gefühls der Verbundenheit mit dem neuen Lebensraum. Der Fall der deutschen Heimatvertriebenen, nicht nur der Sudetendeutschen, bietet eine einzigartige Gelegenheit, diesen Prozess zu untersuchen.   

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren kamen rund zwölf Millionen ethnische Deutsche, die ursprünglich in den ehemaligen deutschen Provinzen, im heutigen Polen, Tschechien und anderen Ländern Südosteuropas wohnten, nach Deutschland. Die so genannten Sudetendeutschen, die aus der Tschechoslowakei geflohen oder vertrieben worden waren, bildeten mit rund drei Millionen Menschen die zweitgrößte Gruppe. Obwohl diese so genannten Heimatvertriebenen den einheimischen Deutschen rechtlich gesehen von Anfang an gleichgestellt waren und sich ihre soziale und wirtschaftliche Situation seit Ende der 1950er Jahre deutlich verbessert hatte, so dass sie Ende der 1960er Jahre weitgehend mit der der einheimischen Bevölkerung vergleichbar war, fühlten sich viele von ihnen ihr ganzes Leben lang in der neuen Umgebung nicht heimisch. Das Wort „Heimat“ war dem Ort ihrer Geburt, dem Land ihrer Vorfahren, der Stadt, in der sie lebten, oder der vertrauten Landschaft, die sie über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg gepflegt hatten, vorbehalten.  

Die emotionale Bindung an die ehemalige Heimat, die verschiedene Formen und Intensitäten annehmen konnte, obwohl sich die Vertriebenen ansonsten in ihrer neuen Heimat zufrieden und voll integriert fühlten, steht im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses.   

Wie bist Du auf das Thema gekommen? Was fasziniert Dich daran? 

Soňa Mikulová: 2017 wurde die Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft Die Herausforderungen von Migration, Integration und Exklusion ins Leben gerufen, um die sogenannte Flüchtlingskrise zu untersuchen. An dieser Initiative habe ich mich als Historikerin mit meiner Studie über sudetendeutsche Heimatvertriebene, insbesondere deren Integration in Kirchengemeinden, beteiligt. Bei der Analyse historischer Quellen fiel mir deren Aktualität im Lichte der jüngsten Migrationswellen auf; einige Parallelen im aktuellen politischen und medialen Diskurs waren erstaunlich. Gleichzeitig war ich fasziniert von der Vielfalt und Variabilität dieser Diskurse über die Jahrzehnte hinweg; die Präsenz von Emotionen (in Erzählungen und Erfahrungen) deutscher Vertriebener in der Öffentlichkeit erlebte nach der Wiedervereinigung einen neuen Aufschwung. Nach wie vor fasziniert mich das anhaltende mediale Interesse und das Engagement der Betroffenen, insbesondere der letzten Zeitzeugengeneration, die die Vertreibung als Kinder erlebt haben und nur bruchstückhafte oder gar keine persönlichen Erinnerungen an ihre ehemalige Heimat haben.  

Faszinierend und aufschlussreich ist die Tatsache, dass ich, tschechischer Abstammung ohne familiäre Bindungen zu Deutschen, ob vertrieben oder nicht, diese Geschichte erforsche. Noch vor dreißig Jahren hätte dies sicherlich negative Reaktionen sowohl bei den Sudetendeutschen als auch in der tschechischen Gesellschaft hervorgerufen.  

Was sind Deine Quellen und hast Du bereits Ergebnisse, die Du mit uns teilen kannst?  

Soňa Mikulová: In Westdeutschland schlossen sich Vertriebene in mehreren Heimatverbänden zusammen und beteiligten sich aktiv an politischen und kulturellen Aktivitäten. Dies führte zur Entstehung zahlreicher schriftlicher Dokumente, die in überregionalen Medien, selbst herausgegebenen Zeitschriften und Archiven zu finden sind. Im Gegensatz dazu war in Ostdeutschland die Bewahrung des einzigartigen regionalen Kulturerbes der Vertriebenen verboten. Die mit der ehemaligen Heimat verbundenen Gefühle wurden – wenn überhaupt  – nur im privaten Rahmen zum Ausdruck gebracht. Daher stütze ich mich stark auf halbstrukturierte mündlich überlieferte lebensgeschichtlichen Interviews, persönliche Aufzeichnungen wie Briefe und Memoiren sowie Vertriebenenzeitschriften. Mitunter ergeben sich überraschende Erkenntnisse, die dem vorherrschenden Narrativ von tabuisierten und unterdrückten Vertriebenen in Ostdeutschland gegenüber politisch engagierten und allgegenwärtigen Vertriebenen in Westdeutschland widersprechen. Darüber hinaus bin ich durch die Analyse dieser Quellen zu dem Schluss gekommen, dass die Mehrheit der sudetendeutschen Vertriebenen in Westdeutschland aufgrund der Tatsache, dass sich nur eine Minderheit der Vertriebenen in Vertriebenenverbänden engagierte, ähnliche emotionale Praktiken innerhalb ihrer Familien entwickelte und pflegte wie die Vertriebenen in Ostdeutschland. Die Ähnlichkeiten wurden nach der Wiedervereinigung noch deutlicher.   

Welche Bedeutung hat die Erforschung und Aufarbeitung der Geschichte der sudetendeutschen Vertriebenen für die heutige Gesellschaft? 

Soňa Mikulová: In der heutigen Zeit, in der das Phänomen der Migration im Alltag immer mehr an Bedeutung gewinnt, verdeutlicht diese Studie, dass Emotionen ein wichtiger Faktor sind, der Migrations- und Integrationsprozesse sowohl vor dem Verlassen der ursprünglichen Heimat als auch nach der Ankunft in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst und sehr lange nachwirkt. Sie zeigt auch, dass bestimmte Emotionen fortbestehen und andere sich im Laufe der Jahrzehnte aufgrund politischer, sozialer und generationeller Veränderungen verändern. Nicht zuletzt bietet sie eine einzigartige ergänzende Perspektive auf die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte vor und nach der Wiedervereinigung, indem sie zeigt, wie unterschiedliche politische und sozioökonomische Regime die gleichen Emotionen und damit die Gemeinschaftsbildung in beiden deutschen Staaten geprägt haben.  

Können wir daraus etwas für die Integration heutiger Vertriebener/Flüchtlinge lernen?   

Soňa Mikulová: Ich gebe zu, dass die Parallelen und Analogien in den verschiedenen Fallstudien manchmal recht auffällig und offensichtlich sind. Daher ist die Versuchung groß, aus den Erfahrungen der Vergangenheit spezifische Lösungen abzuleiten. Als Emotionshistorikerin möchte ich jedoch betonen, dass es notwendig ist, jeden Fall separat in seinem historischen, sozialen und kulturellen Kontext zu untersuchen, in den bestimmte Emotionen eingebettet sind. Der von mir mit herausgegebene Sammelband Migrant Emotions: Inclusion and Exclusion in Transnational Spaces der genau diese Botschaft illustriert, steht kurz vor der Veröffentlichung.

Woran wirst Du als nächstes forschen? 

Soňa Mikulová: Derzeit untersuche ich das Phänomen des so genannten Heimattourismus der Sudetendeutschen und versuche herauszufinden, wie diese Reisen und regelmäßigen Besuche das Zugehörigkeitsgefühl zur ehemaligen Heimat der in West- und Ostdeutschland lebenden Vertriebenen beeinflusst haben. Ich bin jedoch auch daran interessiert, mehr über die Perspektiven und Erfahrungen der Deutschen zu erfahren, die in der Nachkriegstschechoslowakei bleiben konnten und mussten. Deshalb möchte ich mich nach Abschluss meiner aktuellen Forschung geografisch näher an mein Heimatland heranwagen und die deutsch-tschechischen Beziehungen anhand des Phänomens der sudetendeutschen Vertriebenen und ihrer Gefühle vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute genauer untersuchen.  

Warum hast Du Dich für die Wissenschaft entschieden? Gibt es jemanden, der Dich inspiriert hat? 

Soňa Mikulová: Ich kann mich nicht an einen bestimmten Moment erinnern, in dem ich mich für die Wissenschaft entschied, und ich kann auch nicht sagen, wann oder warum ich anfing, Sherlock-Holmes-Geschichten zu lesen, die ich als Kind liebte. Was mir an der Geschichtswissenschaft gefällt, ist, dass ich durch die systematische Suche nach Beweisen und deren Untersuchung aus verschiedenen Blickwinkeln und Quellen die Möglichkeit habe, ähnlich wie ein Detektiv Zusammenhänge aufzudecken, die sonst unter der Oberfläche verborgen bleiben würden. Das ist umso faszinierender, als jede Epoche auf die vorangegangenen reagiert und in gewisser Weise auf ihnen aufbaut. Ich glaube zwar nicht, dass die Geschichte uns lehren kann, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, da die Situationen nie genau dieselben sind. Aber die Kenntnis der Geschichte kann uns sicherlich helfen, unsere Überzeugungen und Urteile über aktuelle Ereignisse zu korrigieren. Dies zeigt sich an den vielen völlig unglaublichen Ereignissen in der Vergangenheit, bei denen die Geschichte völlig unerwartete Wendungen genommen hat. Daher kann es beunruhigend und gleichzeitig beruhigend sein, zu erkennen, dass Geschichte nicht nur aus einer Perspektive erzählt wird und nicht immer linear ist.  

Was schätzt Du an der Max-Planck Community? 

Soňa Mikulová: Was die Max-Planck-Gesellschaft betrifft, so hatte ich das Glück, eine fruchtbare und bereichernde Zusammenarbeit zwischen Nachwuchswissenschaftlern und leitenden Wissenschaftlern aus sechs Instituten zu erleben, die die Grundlage für weitere Forschungen und einen intellektuellen Austausch bildete, der zu dem oben erwähnten Sammelband führte.  

Was unser Institut betrifft, so bin ich sehr dankbar, dass ich in einem so wunderbaren und einzigartigen Umfeld arbeiten konnte. Es war nicht nur wegen der Vielfalt der Kolleg*innen und Gastforschenden inspirierend, sondern auch wegen der Möglichkeit, Einblicke in die Forschung anderer Forschungsbereiche und -gruppen zu erhalten. Darüber hinaus bietet dieses Gebäude, das von einem wunderschönen Garten umgeben ist, zusätzliche Möglichkeiten und Vorteile, die ich mit Freude genutzt habe. Dazu gehören die fachliche Unterstützung durch nicht-wissenschaftliche Kolleg*innen und studentische Hilfskräfte, das außergewöhnliche Engagement der Bibliothekare und die Hingabe des Kantinenpersonals – all das trägt zu einer lebendigen Gemeinschaft bei, die der Arbeit selbst zusätzlichen Sinn und Wert verleiht. 

Weiterführende Informationen: 

Cancian, S., Leese, P., & Mikulová, S. (in press). Migrant emotions: Inclusion and exclusion in transnational spaces. Liverpool University Press.

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